Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1305 
historische Recht, wenn auch in verhüllter Form, 
niedergelegt. Die Folge war, daß der größte 
Teil der umfangreichen naturrechtlichen und poli- 
tischen Literatur während der ersten Dezennien 
des 19. Jahrh. mehr oder weniger deutlich den- 
selben Charakter trug, den man als die Theorie 
des doktrinären Liberalismus bezeichnen kann. Es 
mag hier genügen, Rotteck (1775/1840) als einen 
der hervorragendsten Vertreter dieser Richtung zu 
nennen. 
Die Wirkung des Kantschen Rechtsindividua- 
lismus wurde um so nachhaltiger, als inzwischen 
im Ausland die Entwicklung des Naturrechts auf 
einem ganz andern Wege ungefähr zu demselben 
Resultat geführt hatte. Schon fast gleichzeitig mit 
Grotius hatte der Engländer Thomas Hobbes 
(1588/1679) das Naturrecht durch Fälschung der 
vernünftigen Menschennatur tatsächlich auf eine 
zum Teil materialistische Grundlage gestellt und 
vermittels seines „Sozialvertrages“ im Interesse 
des Friedens (I) die Theorie eines unbeschränkten 
königlichen Absolutismus ausgebildet. Unter dem 
Einfluß der von Baco von Verulam (1561/1626) 
gegründeten empirischen Philosophie erhielt sich 
zwar in England ein zum Sensualismus und 
schließlich zum Materialismus hinneigender reali- 
stischer Zug, der sich von da bald auch nach Frank- 
reich verpflanzte. Allein eben diese Unterlage diente 
nun Locke (1632/1704) dazu, um im Gegensatz 
zu Hobbes die eigentliche Schule der modernen 
Demokratie zu begründen. In Frankreich ent- 
wickelte sich darauf unter der Führung von Män- 
nern wie Condillac (1715/80) und J. J. Rous- 
seau (1712/78) und unter dem Einfluß zahlreicher 
Geistesverwandten einerseits die materialistische 
Weltanschauung, anderseits das Naturrecht als 
Theorie des demokratischen Rechtsindividualismus 
und der Revolution, während in England der 
Utilitarismus nach den Ideen von Bentham, 
Stuart Mill u. a. teils als Moralprinzip teils als 
Prinzip der Politik mehr und mehr zur Herrschaft 
gelangte. 
In Deutschland, wo nach der Kantschen Schule 
die idealistische Richtung der Philosophie ihren 
geeigneten Boden fand, kam endlich das Naturrecht 
unter den direkten Einfluß der neuen pantheisti- 
schen Spekulation durch Schelling (1775/1854) 
und besonders durch Hegel (1770/1831), denen 
hierin bereits Spinoza (1632/77), wenn auch in 
ganz anderer Weise, vorangegangen war. Der 
falsche „Obiektivismus“, durch den der Pantheis- 
mus den bisher herrschenden „subjektiven Indi- 
vidualismus" des Naturrechts zu überwinden und 
dem monarchischen Staat ungefährlicher zu machen 
suchte, war kein Heilmittel, sondern im Gegenteil 
ein neuer tödlicher Schlag gegen das wahre Natur- 
recht und dessen einzig wahre Objektivität, welche 
durch Vermittlung der Vernunft in dem „ewigen 
Gesetze" des persönlichen Gottes wurzelt. Da nun 
Hegel an die Stelle des „ewigen Gesetzes“ den 
unpersönlichen „Weltgeist“ oder „universalen 
Naturrecht usw. 
  
1306 
Willen“ setzt und diesen im Staate selbst sich ver- 
körpern läßt (Grundlinien der Philosophie des 
Rechts 88 157/172), so ist klar, daß hier das 
ganze Naturrecht zugunsten des Staats-Gottes, 
der absoluten Quelle alles Rechts, einfach abzu- 
danken hat. Wie durch Kants „autonome Ver- 
nunft“ das Privatleben des einzelnen Menschen, 
so war durch Hegels Staatslehre auch das öffent- 
liche Leben der gesamten Menschheit von jedem 
Gesetz eines überirdischen Gottes emanzipiert. 
Damit war nicht nur jede Anlehnung an die 
schützende Garantie der von Gott, dem Urheber 
des Naturrechts, eingesetzten kirchlichen Lehrgewalt, 
sondern überhaupt jede höher Berufungsinstanz 
beseitigt, das Ergebnis war Atheismus in Wissen- 
schaft und Leben, Revolution und Gewaltrecht in 
der Politik. (Uber Hegels Stellung zum Natur- 
recht s. Bd II, Sp. 1198 f.) 
IV. Einseitige Reaktion; die historische 
Schule. Nach all dem ist es begreiflich, wenn das 
Naturrecht überhaupt in den Augen ordnungs- 
liebender und christlich-konservativer Menschen 
mehr und mehr in Mißkredit und Verachtung 
geriet. Es war freilich nur eine lügenhafte An- 
maßung, wenn die Vertreter des sozialen und 
politischen Radikalismus ihre destruktive Theorie 
und berückenden Schlagwörter schlechthin „das 
Naturrecht“ nannten. Statt nur den Mißbrauch 
des Naturrechts zu verurteilen, konnte man in 
konservativen Leitartikeln und in Büchern die 
großen Parteien jener Zeit nach dem dreifachen 
Recht: dem Naturrecht, dem geschichtlichen Recht 
und dem göttlichen Recht, klassifiziert sehen, wobei 
dem Radikalismus das Naturrecht, dem spezifisch 
katholischen Standpunkt das göttliche Recht und 
der protestantisch-konservativen Anschauung das 
historische Recht als Basis und eigenstes Feld zu- 
gewiesen wurde. Auch die Regierungen teilten 
nun die konservative Furcht vor dem „Naturrecht“ 
und beeilten sich, fast allenthalben auf den Hoch- 
schulen diesen Zweig aus der Reihe der philo- 
sophischen Fächer zu streichen und es den Pro- 
fessoren der Jurisprudenz anheimzustellen, dem- 
selben etwa in der Einleitung eine dürftige Be- 
rücksichtigung zuzuwenden. 
Diein Deutschland gegen die Mittedes 19. Jahrh. 
aufblühende historische Schule der Rechts- 
wissenschaft (s. Bd II, Sp. 1603) war an sich 
eine höchst wirksame Reaktion gegen jene beklagens- 
werten Auswüchse des Naturrechts. Es bleibt ihr 
unbestrittenes Verdienst, die Geister von den leeren 
Abstraktionen der sog. „reinen Vernunft“ wieder 
mehr der geschichtlich-empirischen Grundlage zu- 
gewandt und dadurch denchristlichen Anschauungen 
wesentlich näher gebracht zu haben. Dahin zielten 
auch unzweifelhaft die edlen Bestrebungen des 
eigentlichen Gründers der Schule, F. K. v. Sa- 
vigny (1779/1861), der es unternahm, vermittels 
der Geschichte die Rechtswissenschaft geistig zu er- 
neuern. Seine Lehrtätigkeit wie seine Schriften, 
namentlich sein Hauptwerk: „System des heutigen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.