Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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römischen Rechts“ (1840), hatten den Erfolg, auf 
die Richtung und den Charakter der neueren 
Rechtswissenschaft überhaupt, zunächst auf dem 
Boden des konservativen Protestantismus, dann 
aber auch im Bereiche der katholischen Juristen 
bestimmend einzuwirken. 
Die Geschichte mit ihrem realen Maßstab ist 
allerdings eine notwendige Begleiterin jeder wissen- 
schaftlichen Forschung, wenn sie praktischen Wert 
haben soll, vor allem aber jeder philosophischen 
Analhyse der menschlichen Verhältnisse. Hätte man 
sich begnügt, in diesem Sinne die Geschichte zu 
verwerten, als Kompaß und begleitende Kontrolle 
der rationellen Deduktionen zum Schutze gegen 
subjektive Verirrung, so wäre das ein wirklicher 
Fortschritt für die praktische Philosophie über- 
haupt gewesen. Aber man ging weiter. Nicht 
ohne Anlehnung an gewisse Schellingsche Ideen 
wurde die Geschichte zur eigentlichen Quelle jener 
Deduktionen erhoben, und damit war folgerichtig 
das Naturrecht überhaupt aus der Reihe der philo- 
sophischen Wissenschaften gestrichen und alles wirk- 
liche Recht ausschließlich nur als ein positives 
anerkannt. — Auch das positive Recht blieb indes 
selbstverständlich Gegenstand vielseitiger philo- 
sophischer Betrachtungen. Weder die gründliche 
Rechtswissenschaft noch der menschliche Geist über- 
haupt konnte sich der Aufgabe entziehen, über die 
tiefere, ideale Grundlage, die leitenden Prinzipien, 
den nach Verschiedenheit der Völker und Zeiten 
verschiedenen Charakter sowie über das allen Ge- 
meinsame, das Menschheitliche des in die geschicht- 
liche Erscheinung tretenden Rechts zu philo- 
sophieren. Doch diese Rechtsphilosophie war nicht 
mehr das Naturrecht im herkömmlichen Sinne, 
welches in dem von Gott in die vernünftige Natur 
eingeschriebenen Gesetz die höchste natürliche Rechts- 
quelle erkannte. 
Es ist kaum anzunehmen, daß die höchst ehren- 
werten und zum Teil hervorragenden Juristen, 
die sich sofort unbedenklich zu dem Prinzip der 
neuen Schule bekannten, der ganzen philosophischen 
Tragweite desselben sich vollkommen bewußt waren. 
Hätte es sich bloß darum gehandelt, im Interesse 
der juristischen Bestimmtheit des Rechts den Um- 
fang und die Zahl der bisher angenommenen 
natürlichen Rechtssätze einer Revision zu unter- 
ziehen und sie auf engere Grenzen zu beschränken, 
so wäre wohl eine Verständigung über dieses Mehr 
oder Weniger auch mit der christlichen Philosophie 
nicht aussichtslos gewesen. Aber es handelte sich 
um die prinzipielle Leugnung jedes wirklichen 
Naturrechts, solange es nicht auf irgend einc Weise 
positives Recht geworden ist. Darüber spricht sich 
F. J. Stahl, der mit Recht als der philosophische 
Vertreter und Anwalt der „historischen Schule“ 
angesehen werden darf, in seiner „Philosophie des 
Rechts“ (Bd II, B. 2, Kap. 2, §§ 11 und 12) 
folgendermaßen aus: „Als ihre eigne Lebens- 
ordnung soll die menschliche Gemeinschaft das 
Recht aufrichten, und die menschliche Ordnung 
Naturrecht ufw. 
  
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selbst, nicht die Forderungen an sie, wie sie gött- 
licher Ordnung entsprechen, hat die Sanktion 
Gottes, daß sie die Menschen äußerlich und ge- 
meinsam bindet. So wurzelt die menschliche Ord- 
nung, welche das Recht ist, in der göttlichen; aber 
sie ist selbständig in sich, und in dieser ihrer Selb- 
ständigkeit besteht die Positivität des Rechts. Das 
Recht ist positiv seinem Inhalt nach. Es hat seine 
Prinzipien und Ideen in Gottes Weltordnung, 
aber seine bestimmten Gesetze sind menschlich ver- 
faßt, positiv; es ist positiv seiner Geltung nach. 
Der letzte Grund seines bindenden Ansehens ist 
Gottes Weltordnung, aber der Sitz desselben ist 
doch die menschlich festgesetzte Ordnung, das be- 
stehende Recht. Gemäß dieser Selbständigkeit kann 
das Recht geradezu in Widerstreit treten gegen 
Gottes Weltordnung, der es dienen soll, und 
auch in dieser gottwidrigen Beschaffenheit behält 
das Recht sein bindendes Ansehen.... Recht und 
positives Recht sind darum gleichbedeutende Be- 
griffe. Es gibt kein anderes Recht als das positive. 
Was der Vorstellung eines „Naturrechts zugrunde 
liegt, sind eben jene Gedanken und Gebote der 
Weltordnung Gottes, die Rechtsideen; diese aber 
haben, wie ausgeführt worden, weder die erforder- 
liche Bestimmtheit (Präzisierung) noch die bin- 
dende Kraft des Rechts.. Es gibt daher wohl 
Vernunftforderungen an das Recht, aber es gibt 
kein Vernunftrecht. Es dürfen die Untertanen, 
einzeln oder in Masse, sich nicht wider das posi- 
tive Recht setzen, gestützt auf Naturrecht; das ist 
der Frevel der Revolution.“ 
V. „Rechtsphilosophie“ ohne Naturrecht. 
Durch die Leugnung des Naturrechts hatte die 
historische Schule im Grunde die Rechtsphilosophie 
beseitigt, deren Gegenstand das Naturrecht bildet. 
Auf die Dauer konnte und wollte man jedoch auf 
eine philosophische Ergründung des Rechts nicht 
verzichten. Die Jurisprudenz, die sich damit be- 
gnügt, die positiven Rechtsbestimmungen systema- 
tisch zusammenzustellen und für den praktischen 
Gebrauch zurechtzulegen, ist noch keine eigent- 
liche Wissenschaft, jedenfalls keine Philosophie, 
und deshalb nicht geeignet, den tiefer forschenden 
Geist zu befriedigen. Deshalb suchte man in neuerer 
Zeit wieder eine Rechtsphilosophie — allerdings 
ohne Naturrecht — zu begründen. 
Die meisten Rechtslehrer wollten auf dem Wege 
der bloßen Erfahrung, durch Analyse des positiven 
Rechts ihr Ziel erreichen. Die bloße Empirie 
hielten sie für ausreichend, um zu allgemeinen 
Prinzipien zu gelangen. So namentlich R. 
v. Ihering, Ad. Merkel, K. Binding, E. R. Bier- 
ling, K. Bergbohm u. a. Zu ihnen gehören auch 
die Anhänger der extremen Entwicklungslehre, die 
im Menschen nur ein weiter entwickeltes Sinnen- 
wesen erblicken, mögen sie nun auf materialistischem 
Standpunkt stehen, wie H. Spencer, oder auf 
pantheistischen, wie F. Paulsen, Th. Ziegler u. a. 
Sie alle übersahen, daß die bloße Erfahrung nie 
zu allgemeingültigen Prinzipien führen kann. Die
	        
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