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Da Schweden die Union enger zu gestalten
suchte und in den gemeinsamen, besonders den
auswärtigen Angelegenheiten die Führung bean-
spruchte und vielfach auch ausübte, kam es schon in
den 1830er Jahren zu Differenzen. Versuche zur
Revision des Unionsvertrags (1839/44 und
1865/71) scheiterten. Der erste ernste Konflikt
entstand, als das Storthing trotz dreimaligen
königlichen Vetos 1880 eine Verfassungsänderung
als gültig erklärte. Ein Ministerprozeß in Nor-
wegen (1883/84) und eine Verfassungsänderung
in Schweden (1885), welche die Vertretung
Schwedens im Ministerrat für auswärtige An-
gelegenheiten verstärkte, trugen zur Verschärfung
des Zwistes bei. Norwegen forderte sortan ein
eignes Ministerium für Auswärtiges, eigne Diplo-
matie und eignes Konsulatswesen. Der letztge-
nannte Punkt erhielt erhöhte Bedeutung, als
Norwegen 1897 die Zollübereinkunft mit Schwe-
den nicht mehr erneuerte und damit sich in seiner
Handelspolitik von Schweden ganz trennte. Nach
langen vergeblichen Verhandlungen beschloß das
Storthing am 23. Mai 1905 die Errichtung
eines gesonderten Konsulatswesens, und als der
König die Sanktion dieses Gesetzes und die De-
mission der Minister ablehnte, erklärte es am
7. Juni die Union für aufgelöst und setzte das
Ministerium (Michelsen-Lövland) als provisorische
Regierung ein. Schweden protestierte gegen die
Revolution, verzichtete jedoch auf eine gewaltsame
Wiederherstellung der Union. Nachdem eine Volks-
abstimmung in Norwegen sich nochmals für die
Trennung ausgesprochen und Schweden auf den
Konferenzen zu Karlstad (Vertrag vom 23. Sept.)
im wesentlichen seine Forderungen (Herstellung
einer neutralen unbefestigten Zone beiderseits der
südlichen Grenze, Bestimmungen betr. des Durch-
gangsverkehrs) durchgesetzt hatte, erkannte Schwe-
den die Auflösung der Union an (16. Okt.) und
verzichtete König Oskar auf den norwegischen
Thron (27. Okt.). ·
In Norwegen stimmte das Storthing gegen
eine starke republikanische Minderheit für die
monarchische Staatsform und wählte, nachdem es
die Genehmigung durch eine Volksabstimmung
(12./13. Nov.) eingeholt hatte, am 18. Nov. den
dänischen Prinzen Karl (geb. 1872) zum König,
der am 25. Nov. als Haakon VII. in Kristiania
seinen Einzug hielt und 1906 in Trondhjem ge-
krönt wurde. Deutschland, Frankreich, Großbri-
tannien und Rußland garantierten die Integrität
Norwegens im Vertrag vom 2. Nov. 1907, der
einer Neutralisierung gleichkommt.
Im Innern war während des ganzen Jahr-
hunderts eine bäuerlich-demokratische Richtung
herrschend, die schon 1821 den Adel abschaffte.
1885 wurde die allgemeine Wehrpflicht, 1898
das allgemeine, 1905 das direkte Wahlrecht, 1907
das Frauenstimmrecht eingeführt. Der Einfluß
der Krone wurde durch die Revolution noch mehr
verringert. Die wichtigsten Akte der Gesetzgebung
Norwegen.
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der letzten Jahre sind die Arbeitslosenversicherung
1906 und 1908, ein neues Handelsgesetzbuch
1907, eine neue Unfallversicherung für Fischer
1908 und die Abschaffung der Krönung 1908.
In der Regierung folgte auf die Koalitions=
ministerien Michelsen (1905/07) und Lövland
(1907/08) ein radikales (Knudsen, 1908/10),
dann ein liberal-konservatives Kabinett (Konoy).
Daneben gibt es eine schwache sozialistische Partei.
II. Fläche und Bevölkerung. Das König-
reich Norwegen zählte auf einem Flächenraum von
322987 qkm nach der Zählung vom 3. Dez.
1900: 2240 032 Einwohner (1087 603 männ-
liche); für Anfang 1909 wird die Bevölkerung
auf 2 353 800 berechnet. Von den in Norwegen
Gebornen sind außer den eigentlichen Norwegern
7777 Quänen (Finnen), 18 475 seßhafte Lappen,
1202 nomadische Lappen. Nach der Konfession
bekannten sich 2 187 318 zur lutherischen Staats-
kirche, 13 161 zur freien lutherischen, 1969 zur
römisch-katholischen Kirche; ferner zählte man
10 286 Methodisten, 5674 Baptisten, 5165 ver-
schiedene Sekten, 2538 andere Christen, 642
Israeliten, 13279 ohne Angabe des Bekennt-
nisses. Die Dichte (im Mittel 7) steigt in 5 Amtern
auf über 10 (Jarlsberg und Larvik 45, Smaale-
nene 33, Akershus 22, Stavanger 14, Lister und
Mandal 11), in ?7 fällt sie unter das Mittel (in
Finmarken 0,7). Die größeren Städte liegen alle
an der See: Kristiania (227 626 Einwohner,
Bergen (72251), Trondhjem (38 180), Sta-
vanger (30 613), Drammen (23 093); außerdem
8 Städte mit mehr als 10 000 Einwohnern.
Die städtische Bevölkerung betrug 28% der
gesamten. Die erhebliche Auswanderung (1897;:
4669, 1903: 26 784, 1907: 22 135) wendet
sich fast ganz den Vereinigten Staaten (93,3%)
und Kanada (6,7 %) zu.
Über die Berufszählung von 1900 gibt die
Tabelle auf Sp. 1365/66 Ausschluß.
III. Staatswesen. Die Staatsform des
Königreichs Norwegen ist nach der Verfassung
vom 17. Mai und 4. Nov. 1814 (mit Ande-
rungen und Zusätzen, bes. 7. Juni 1905), die
auch nach der Trennung von Schweden das
Grundgesetz des Landes geblieben ist, die einer
eingeschränkten, erblichen Monarchie. Die Ver-
fassung gilt als die demokratischste unter den
curopäischen Monarchien; sie gewährt persönliche
Freiheit, Gewissens-, Preß= und Handelsfreiheit,
Unverletzlichkeit des Domizils und des Eigentums,
gestattet Haussuchungen nur in Kriminalfällen,
untersagt Verurteilungen ohne gerichtliches Ver-
fahren usw.; es gibt weder Vorrechte der Geburt
noch andere politische noch große wirtschaftliche
Privilegien (wenig Großkapital und Großgrund-
besitz). Der König, dessen Rechte durch die Ver-
fassung und das Herkommen ziemlich beschränkt
sind, muß der evangelisch-lutherischen Religion
angehören. Die Erbfolge ist linear und agnatisch;
wenn kein erbberechtigter Prinz vorhanden ist,