Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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auf die außergewöhnlichen Zustände, unter denen 
sie erfolgten, das Privileg der Straflosigkeit sichert, 
ebenso muß auch der Staatsgewalt erlaubt und 
geboten sein, in ausnahmsweisen Fällen von der 
Befolgung des Regelrechts abzusehen und dagegen 
in Ausübung des Staatsnotrechts jene Maßregeln 
vorzukehren und jene Verfügungen zu erlassen, 
welche, obgleich sie den Gesetzen und der Verfassung 
widerstreiten, vom Zwang der Umstände gebie- 
terisch diktiert werden. So verstehen wir denn unter 
Staatsnotrecht das Recht der Staatsgewalt, in 
dringender Gefahr und äußerster Notlage die vom 
Untergang oder von schwerer Schädigung be- 
drohten wesentlichen Interessen des Staats, wenn 
nicht anders möglich, entgegen dem bestehenden 
Regelrecht, ja selbst auf formell widergesetzliche 
Weise zu schützen. 
Den Grundgedanken des Staatsnotrechts bildet 
der Satz: Salus publica suprema lex. Und es 
wäre geradezu widersinnig, den Staat und die 
Wohlfahrt aller preiszugeben oder erheblichen 
Schaden leiden zu lassen und dafür am Buch- 
staben des Gesetzes starr festzuhalten. Es können 
eben Notlagen des Staats eintreten, in denen 
sofort entsprechende Maßregeln getroffen werden 
müssen, ohne daß man erst den umständlichen 
Weg der Gesetzgebung zu beschreiten braucht. Des- 
halb gewähren die Verfassungen der deutschen 
Bundesstaaten den Monarchen in besondern Not- 
lagen außerordentliche Befugnisse, das Gesetz durch 
Verordnung wenigstens vorläufig zu durchbrechen. 
Es sind damit die Notverordnungen oder 
Verordnungen mit Gesetzeskraft als zu Recht be- 
stehende Einrichtung begründet. 
Für das Deutsche Reich wird die Zulässig- 
keit von Notverordnungen, d. h. die Möglichkeit, 
die formelle Gesetzeskraft im Wege der Verord- 
nung im Falle eines Notstandes und wenn der 
Reichstag nicht versammelt ist, von weitaus den 
meisten Staatsrechtslehrern verneint. Laband (Das 
Staatsrecht des Deutschen Reichs III/1901185ff) 
widerlegt schlagend die von Arndt (Verordnungs- 
recht, 1884) aufgestellte Ansicht, wonach der 
Bundesrat befugt sei, Rechtsverordnungen, d. h. 
Rechtsnormen im materiellen Sinne zu erlassen. 
Demnach kann im Reich eine Verordnung, welche 
Rechtsvorschriften enthält, nur gültig erlassen wer- 
den auf Grund einer speziellen, reichsgesetzlichen 
Delegation. Da dadurch natürlich Notlagen, die 
ein sofortiges Eingreifen der Regierung notwendig 
machen, nicht ausgeschlossen sind, bleibt für solche 
Fälle nur das Indemnitätsverfahren. Die An- 
ordnung wird unter formellem Rechtsbruch gegen 
das Gesetz vorläufig getroffen in der Erwartung, 
daß die gesetzgebenden Körperschaften die Notlage 
anerkennen und durch nachträgliche Genehmigung 
den Rechtsbruch heilen werden. Das gilt nament- 
lich bei der Notwendigkeit außeretatsmäßiger Aus- 
gaben(z. B. beider Chinaexpedition im Jahre 1900). 
Die deutschen Landesverfassungen dagegen er- 
kennen durchweg den Landesherren das Recht zu, 
Staatslexikon. III. 3. Aufl. 
Notrecht. 
  
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unter gewissen Voraussetzungen solche Notverord- 
nungen mit Gesetzeskraft zu erlassen. Voraus- 
setzung für deren Erlaß ist in allen Verfassungen 
ein ungewöhnlicher Notstand, über dessen Vor- 
handensein naturgemäß die Entscheidung im 
Ermessen der Regierung liegt. Da die Verfas- 
sungen der einzelnen deutschen Staaten nach For- 
men und Gegenständen das Notrecht verschieden 
geregelt haben, so seien hier die wichtigsten Be- 
sinmngen der einzelnen Bundesstaaten ange- 
ührt. 
Die preußische Verfassungsurkunde (Art. 63) 
knüpft die Ausübung dieser außerordentlichen Ge- 
walt an die vierfache Voraussetzung bzw. Be- 
schränkung, daß 1) der Erlaß der Notverordnung 
durch die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicher- 
heit oder die Beseitigung eines ungewöhnlichen 
Notstandes dringend erfordert wird; 2) der Land- 
tag zur Zeit nicht versammelt ist; 3) die Verord- 
nung keine Bestimmung enthält, welche der Ver- 
fassung zuwiderläuft, und 4) die Verordnung dem 
Landtag bei dessen nächstem Zusammentritt sofort 
zur Genehmigung vorgelegt werden muß. Die 
dritte Bestimmung schließt also eine Abänderung 
formellen Verfassungsrechts im Wege der Not- 
verordnung aus. Die vierte überträgt dem Land- 
tag auch das Recht zu prüfen: ob die Voraus- 
setzungen für den Erlaß der Verordnung vorlagen, 
und ob die verfassungsmäßigen Formen gewahrt 
sind, vor allem auch, ob die Verordnung von 
sämtlichen Ministern gegengezeichnet ist. Indes 
kann in Preußen die Verletzung dieser Formvor- 
schrift nur auf Grund der politischen Verantwort- 
lichkeit der Minister vom Landtag gerügt werden; 
diese Verantwortlichkeit kann hier wohl kaum im 
äußersten Falle beim Mangel eines Minister- 
verantwortlichkeitsgesetzes wirksam zur Geltung 
gebracht werden (vgl. d. Art. Garantien, staats- 
rechtliche, Bd II, Sp. 396 f). Wenn der Land- 
tag die Genehmigung erteilt, dann ist der Mangel, 
der der Notverordnung im Vergleich zum Gesetz 
ursprünglich anhaftete, geheilt. Die vorherige 
Zustimmung ist durch die nachträgliche Genehmi- 
gung ersetzt. Die Verbindlichkeit nach außen be- 
ruht auf der Verkündigung. Wenn die Volks- 
vertretung die Genehmigung nicht erteilt oder nur 
mit Abänderungen, so muß die Regierung die 
Notverordnung außer Kraft setzen. Tut sie das 
nicht, so liegt ein Verfassungskonflikt vor, dessen 
Lösung zur politischen Machtfrage wird (vgl. ebd. 
Sp. 39 Für die Zwischenzeit war aber die 
Notverordnung in Kraft; sie verliert nicht nach 
rückwärts ihre Wirkung, sondern tritt erst durch 
die Zurücknahme außer Kraft. Alle unter ihrer 
Herrschaft vorgefallenen Tatbestände sind daher 
nach der Notverordnung zu beurteilen. — Neben 
der Notverordnung bleibt auch das Indemni- 
tätsverfahren bestehen, so namentlich bei 
Etatsüberschreitungen. 
In Bayern bleibt die Notverordnung be- 
schränkt auf „polizeiliche Vorschriften mit Straf- 
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