129
Verhältnisses der beiden Gewalten Bonifaz VIII.
(1302) in der berühmten Konstitution Unam
sanctam (c. 1, Extr. com. 1, 8) aus. Doch
ist diese Erklärung, trotzdem die gegensätzliche
Lehre von der Koordination beider Schwerter als
manichälscher, zwei Prinzipien statuierender Irr-
tum bezeichnet wird, keineswegs eine dogmatische
Glaubensdefinition des unfehlbaren Papstes, wie
von altkatholischer Seite mehrfach behauptet
wurde. Vgl. Berchtold, Die Bulle Unam sanc-
tam (1887); dagegen Martens. Das Vatikanum
und Bonifaz VIII. (1888).
Eine historische oder gar urkundliche Stütze
des welfischen Systems war dem der historischen
Kritik entbehrenden Mittelalter die Konstan-
tinische Schenkung. In dieser verleiht Kaiser
Konstantin dem Papste Sylvester, von dem er ge-
tauft (1) worden, kaiserliche Würde und Insignien
und schenkte ihm Rom, Italien mit den Inseln,
ja das ganze Abendland (Hesperien). Diese ins
kanonische Rechtsbuch (c. 14, Dist. 96) aufge-
nommene Schenkung ist, wie längst erkannt wor-
den, apokryph. Darüber, ob die Fälschung im
8. oder 9. Jahrh., in Rom oder in Frankreich
entstanden ist, besteht noch eine lebhaft geführte
wissenschaftliche Kontroverse. Vgl. u. a. Grauert
im Histor. Jahrb. III (1882) 3/30; IV (1883)
45/91, 525/617, 674/680; Martens, Die
Generalkonzession Konstantins d. Gr. (1889).
Vgl. im allg. Gosselin, Pouvoir du pape au
moyen-age (Löwen 21845); Friedberg, De
finium inter ecclesiam et civitatem regun-
dorum iudicio quid medüt saevi doctores et
leges statuerint (1861); Hergenröther, Anti-
Janus (1870); ders., Kath. Kirche und christl.
Staat (2 Abt. 1872), gegen: Janus, Der Papst
und das Konzil (1869, 2. Aufl. u. d. Tit.: Döl-
linger, Das Papsttum, hrsg. von Friedrich, 1892),
und v. Schulte, die Macht der röm. Päpste über
Fürsten, Länder, Völker, Individuen (1871);
v. Eicken, Gesch. und System der mittelalterl.
Weltanschauung (1887) 169/307, 356/436;
s. dagegen v. Hertling im Histor. Jahrbuch X
(1889) 128/155.
VIII. Die Geschichte des Mittelalters ist reich
an Streitigkeiten der weltlichen und der geist-
lichen Gewalten. Oft hatte die Kirche über Ge-
waltmaßregeln der Fürsten zu klagen, über Ver-
letzung der christlichen Sitte, über widerrechtliche
Schließung und Lösung von Ehen, über frevent-
lichen Bruch beschworener Verträge, über Usur-
pation kirchlicher Rechte durch Anmaßung kirch-
lichen Eigentums oder durch Nichtachtung der
kirchlichen Selbstverwaltung in Besetzung kirch-
licher Amter, über Schädigung der kirchlichen und
klerikalen Vorrechte und Freiheiten, der Immuni-
tätsprivilegien, welche die Freiheit des kirchlichen
Gutes von den meisten Steuern, die Freiheit des
Klerus von dem weltlichen Gerichtsbann, endlich
das Asylrecht der Kirchen betrafen. Die Waffen
der Kirche zur Verteidigung ihrer angegriffenen
Staatslexikon. III. 3. Aufl.
Kirche und Staat.
130
Stellung waren Drohungen und Bitten, Ver-
hängung der kanonischen Zensuren: Bann und
Interdikt, die Reprobation weltlicher Gesetze, end-
lich in allerdings nicht unbestrittener Anlehnung
an das Staatsrecht des Mittelalters Absetzung
der Fürsten und Entbindung der Untertanen vom
Treueide. Vgl. Libelli de lite imperatorum
et pontificum saeculi Xl. et XII. conscripti
(Mon. Germ., 3 Bde, 1891/97); Mirbt, Die
Absetzung Heinrichs IV. durch Gregor VII. in
der Publizistik jener Zeit (Kirchengeschichtliche
Studien, H. Reuter gewidmet (1888)) 95/144;
ders., Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII.
(1894); Martens, Gregor VII. (2 Bde, 1894);
Sdralek, Die Streitschriften Altmanns von Passau
und Wezilos von Mainz (1890); Borch, Zur
Absetzung des Königs der Deutschen (1886);
Redlich, Die Absetzung deutscher Könige durch
den Papst (1892); Domeier, Die Päpste als
Richter über den deutschen König (1897); Hugel-
mann, Die deutsche Königswahl im Corpus juris
canonici, bei Gierke, Untersuchungen zur deutschen
Staats-= und Rechtsgeschichte, Hft 98 (1909).
Oft gelang es der Kirche, ihre Gegner zur
Nachgiebigkeit zu bewegen; man denke an den
Frieden von Venedig (1177), den Kaiser Fried-
rich I. mit dem von ihm angefeindeten Papst
Alexander III. schloß. Manchmal war ein Ver-
gleich des Streites Ende; so wurde der langjährige
Investiturstreit, in welchem Papst Gregor VII.
nicht um die Herrschaft über den Staat, wohl
aber für die Freiheit der Kirche von weltlicher
Umarmung mit dem Aufgebot aller Kräfte kämpfte,
durch das Calixtinische oder Wormser Konkordat
(1122) abgeschlossen, in welchem Kirche wie Reich
von ihren ursprünglichen Forderungen zugunsten
des andern Teiles etwas aufgeben mußten. In
andern Fällen gelang es der Kirche kaum, das
Prinzip oder eine mehr nominelle Anerkennung
ihres Rechtes zu erlangen; so in der auf der frän-
kischen Synode von 743 beschlossenen sog. divisio
oder restitutio des unter Karl Martell säkulari-
sierten Kirchengutes. Endlich entbehrten die kirch-
lichen Maßnahmen wohl auch des greifbaren
Erfolges; Beispiele bieten unter andern die Ponti-
fikate Innozenz' III., Bonifaz' VIII. Vgl. Tho-
masius, Historia contentionis inter imperium
et sacerdotium (Halle 1722).
IX. Im 14. Jahrh. machte sich ein neues Ele-
ment im Leben der Völker bemerklich: der natio-
nale Gedanke. Ihn hatte Philipp IV. der
Schöne in seinem Kampfe mit Bonifaz VIII.
mit Nutzen beschworen; er war die treibende Kraft
in den langwierigen Kriegen der Franzosen mit
den Engländern. In Rom versuchte Cola di
Rienzi (gest. 1354) den Traum von der Republik
des souveränen römischen Volkes in die Wirklich-
keit zu übersetzen. Glücklicher waren die deutschen
Fürsten, als sie 1338 auf dem Kurverein zu Rhense
feierlich erklärten, derjenige sei deutscher König,
welchen die Majorität der deutschen Kurfürsten
5