Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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des polizeistaatlichen Regimes der Kirche gegen- 
über (vgl. Abschn. XIV). Von einer Würdigung 
der Freiheit, der Selbständigkeit, der Eigenart der 
katholischen Kirche ist nirgends die Rede. Die im 
Geiste des mit dem Jansenismus verbundenen 
Febronianismus gefaßten Beschlüsse der Synode 
von Pistoia (1786) wurder feierlich und eingehend 
von Pius VI. (Auctorem fidei, 28. Aug. 1794) 
verurteilt. 
XIII. Um die wissenschaftliche Widerlegung 
des Gallikanismus wie des Febronianismus haben 
sich vorwiegend italienische Theologen und Kano- 
nisten Verdienste erworben. In der Regel be- 
harrten sie auf der im Mittelalter herrschend ge- 
wesenen, oben (Abschn. VII) charakterisierten 
welfischen Auffassung des Verhältnisses von Kirche 
und Staat. Eine im Grunde nur unwesentliche 
Abschwächung der Theorie der mittelalterlichen 
Kurialisten nahm der berühmte Robert Bellar- 
min S. J. (gest. 1621) vor, sofern er die direkte 
Gewalt des Papstes in weltlichen Angelegenheiten 
leugnete und nur eine indirekte Gewalt desselben 
über die Staaten statuierte. Diese formelle Neue- 
rung war der Grund, daß dessen Werk Disputa- 
tiones de controversüs fidei, I: De Romano 
Pontifice libri 5 (Rom 1581/90) auf den Index 
kam, während der Autor anderseits seine Lehre 
gegenüber den die eingetretenen politischen Ver- 
änderungen mehr berücksichtigenden katholischen 
Juristen (z. B. Wilhelm Barclay lgest. 1605), 
De potestate papae, an et quatenus in reges 
et principes saeculares ius et imperium ha- 
beat (1609.) verteidigen mußte. — Eine Modi- 
fikation dieser Theorie von der indirekten Gewalt 
des Papstes bietet die Lehre von einer direktiven 
oder deklaratorischen Gewalt des Papstes in welt- 
lichen Dingen des Suarez S. J. (gest. 1617; vgl. 
Defensio fldei cath. adversus anglicanae 
sectae errores lib. 3, c. 22 LOpp. XXI, Vene- 
dig 17491, 168) und Bianchi O. Fr. (gest. 1758; 
Della potestaà e della politica della chiesa 
(7 Bde, Rom 1745/51)); doch vom politischen 
Standpunkte verschlägt es wenig, ob man sagt, 
dem Papst eigne eine direkte, ordentliche, habi- 
tuelle, oder eine indirekte, außerordentliche, aktuelle 
Gewalt, die Fürsten nicht nur zu belehren, sondern 
auch zu rügen, sie abzusetzen oder für abgesetzt zu 
erklären, das zwischen Fürst und Untertanen be- 
stehende Band zu lösen oder für gelböst zu erklären, 
weltliche Gesetze zu annullieren oder für nichtig 
zu erklären. Man pflegt dieses heute vorwiegend, 
doch nicht ausschließlich von italienischen Schrift- 
stellern festgehaltene System das hierokratische 
zu nennen. Vgl. Liberatore S. J., La chiesa elo 
stato (Neapel 1871); Del diritto pubblico ec- 
clesiastico (Prato 1887); Cavagnis, Institu- 
tiones iuris publici ecelesiastici (3 Bde, Rom 
188283); Moulart, L'église et Pétat (Löwen 
79). 
XIV. Nach der Theorie des Polizeistaates 
ist es Aufgabe der Staatspolizei, das Wohl des 
Kirche und Staat. 
  
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Staates und der Untertanen auf alle Weise zu 
fördern. Die Polizei leitet alles zum Besten, 
ohne dabei der Selbstbetätigung der Bürger zu 
bedürfen; vielmehr ist es das Prinzip des Miß- 
trauens, welches das Verhalten der Regierung 
gegenüber den im Staate vorhandenen Gesell- 
schaften normiert. Derlei Gesellschaften, und dazu 
gehört insbesondere die katholische Kirche, sind 
gut nur, insofern sie sich nicht nur dem Zwecke, son- 
dern auch der Leitung des Staates unterordnen. 
Im einzelnen umfaßt der Begriff der staatlichen 
Kirchenhoheit: 
1. Die böllig freie Wahrnehmung der staat- 
lichen Rechte in allen in den Staatsbereich fallen- 
den Verhältnissen der kirchlichen Institute und 
Personen. Der Staat gibt und entzieht den kirch- 
lichen Vereinen und Stiftungen juristische Per- 
sönlichkeit und Rechtsfähigkeit, verleiht und ver- 
weigert bestimmte Immunitäten, z. B. befreiten 
Gerichtsstand, Asylrecht der Kirchen, gewisse 
Steuerbefreiungen. Dem Staat eignet auch über 
das Kirchengut das dominium eminens, aus 
welchem Obereigentum das Besteuerungsrecht, das 
Heimfallrecht, das Expropriationsrecht und das 
Säkularisationsrecht ubgeleitet werden. 
2. Der Staat muß auch der Kirche gegenüber 
auf der Hut sein, daß er nicht Schaden leide (ius 
cavendi). Diesem Zwecke dienen verschiedene 
Präventivmaßregeln; das Aufsichtsrecht der Re- 
gierung erstreckt sich auf die von den kirchlichen 
Behörden beabsichtigten gesetzlichen oder admini- 
strativen Verfügungen, welche sämtlich, etwa mit 
Ausnahme der auf Religion und das forum 
internum sich beziehenden, vor ihrer Bekannt- 
machung und Durchführung staatlich genehmigt, 
vidiert oder plazetiert werden müssen (ius placeti 
regi#). Nur eine mildere Form des Plazet ist es, 
wenn die Regierung ihr mißliebigen Bewerbern 
um ein Kirchenamt die Exklusive gibt; der kirch- 
liche Verkehr insbesondere mit dem Auslande wird 
überwacht oder beschränkt, das Klosterwesen staat- 
lich geregelt. Außerordentliche Andachten, Wall- 
fahrten, Prozessionen, Missionen können verboten, 
die Feiertage reduziert werden; der Anhäufung 
von Vermögen der „toten Hand“ wird durch Er- 
laß von Amortisationsgesetzen vorgebeugt. End- 
lich gewährt der Staat einem jeden, welcher sich 
durch eine kirchliche Maßnahme gekränkt fühlt, die 
Möglichkeit, sich mit einer Beschwerde und mit 
der Bitte um Abhilfe an die Regierung zu wenden 
(recursus tamquam ab abusu). Der Staat 
maßt sich nicht nur den Beruf an, einen angeb- 
lichen Mißbrauch des kirchlichen Amtes zu strafen, 
sondern auch in kirchlicher Hinsicht eigenmächtige 
Verfügungen zu treffen. 
3. Das Schutzecht (ius protectionis) ist an 
Stelle der alten Schutzpflicht des Staates getreten. 
Die kirchlichen Institute genießen die Vorrechte 
der Minderjährigen; das Kirchengut darf nicht 
ohne staatlichen Konsens veräußert werden. Glaube 
und Sitte wird von Staats wegen geschützt; Be- 
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