Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1473 
reglung der Verhältnisse in Ungarn notwendig 
geworden war, ferner ein Gesetz über die Minister- 
verantwortlichkeit, das vor künftigen Verfassungs- 
experimenten abschrecken sollte, und den sog. öster- 
reichisch-ungarischen Ausgleich. Diese 
Gesetze zusammen mit der Februarverfassung bil- 
den die noch heute geltenden Staatsgrundgesetze 
Osterreichs. 
Das österreichische Staatsbildungsproblem war 
so umgangen und nicht gelöst worden. Alle Teile 
stellten sich nur mit Vorbehalten auf den Boden 
der neuen Verfassung. Die unklaren zweideutigen 
Bestimmungen des Ausgleichsgesetzes enthielten 
reichliche Gelegenheit für Interpretationskünste 
im Sinne der divergierenden staatsrechtlichen An- 
schauungen; die für je 10 Jahre vorgeschriebene 
Erneuerung eines Teils des Ausgleichs, des sog. 
„Zoll= und Handelsbündnisses“, bot Stoff für 
immer neue Beunruhigung der beiderseitigen wirt- 
schaftlichen Interessen, für immer neue Angriffe 
auf die noch stehen gebliebenen Reste der Gemein- 
samkeit. Anstatt daß, wie man bei Abschluß des 
Ausgleichs in Osterreich annahm, die Befriedigung 
der ungarischen Verfassungswünsche das Interesse 
und die Sympathie für die gemeinsamen Ange- 
legenheiten in Ungarn gestärkt hätte, statt daß, 
wie man weiter hoffte, aus den von den beider- 
seitigen Parlamenten zur Beschlußfassung über die 
gemeinsamen Angelegenheiten entsandten Dele- 
gationen ein Reichsparlament erwuchs, wurden 
die Bande der Gemeinsamkeit in den folgenden 
Dezennien von Ungarn immer mehr gelockert. 
Ein erster Schritt hierzu war die Weigerung Un- 
garns für die gemeinsame Staatsschuld, die haupt- 
sächlich in der Zeit nach 1848 für kriegerische 
Operationen, an denen Ungarn zum Teil minde- 
stens gewiß auch interessiert war, stark angewachsen 
war, Verpflichtungen zu übernehmen. Nach langem 
Feilschen verstand es sich dazu, einen der Quote 
entsprechenden Teil der Zinsenlast (30 %) zu 
tragen, lehnte aber jede Mitverpflichtung für die 
Kapitalsverbindlichkeit ab. 
Die Entwicklung der innern Politik Osterreichs 
sowohl wie Ungarns stand in dem der Verfassungs- 
erteilung folgenden Dezennium unter dem unbe- 
schränkten Einfluß des Liberalismus. In Oster- 
reich regierte mit kurzer Unterbrechung (1870/71) 
bis 1879 ein sog. Bürgerministerium, d. h. ein par- 
lamentarisches, den deutsch-bürgerlichen Parteien 
entnommenes Ministerium, dessen hervorragendste 
Gestalten den Vorkämpfern des Jahres 1848 an- 
gehörten, in Ungarn stand der in den 1850er 
Jahren wegen Hochverrats verurteilte Graf Julius 
Andrassy an der Spitze der Regierung. Die libe- 
rale Sturzwelle, die Anfang der 1870er Jahre 
über ganz Europa flutete, ergriff auch Osterreich 
und machte sich hier wie im Deutschen Reich in 
heftigen Angriffen gegen die christlichen Grund- 
lagen der staatlichen Politik und gegen die Rechte 
der katholischen Kirche fühlbar. Man ging zuerst 
an die stückweise Beseitigung des Konkordats durch 
Staatslexikon. II. 3. Aufl. 
Osterreich-Ungarn. 
  
1474 
die in Ausführung der Verfassungsbestimmungen 
erlassenen Gesetze vom 25. Mai 1868, deren erstes 
die geistliche Gerichtsbarkeit in Ehesachen aufhob 
und die Notzivilehe einführte; ein weiteres Gesetz 
entzog die Schule der kirchlichen Aufsicht und ließ 
diese nur mehr für den Religionsunterricht be- 
stehen; zudem wurden die von Staat, Land oder 
Gemeinden erhaltenen Volksschulen als inter- 
konfessionell erklärt. Im Jahr 1870 erfolgte, wie 
die Regierung erklärte, als Folge der Prokla- 
mierung des Unfehlbarkeitsdogmas die einseitige 
Aufhebung des Konkordats durch den Staat. Im 
Mai 1874 erfloß das Gesetz über die äußern 
Rechtsverhältnisse der katholischen Kirche, das die 
Oberaufssicht des Staats auch in innerkirchlichen 
Verhältnissen brachte. Hiermit war die kirchen- 
politische Gesetzgebung abgeschlossen, da sich der 
Monarch weigerte, den geplanten weiteren anti- 
kirchlichen Gesetzesvorschlägen des liberalen Mini- 
steriums die Zustimmung zu erteilen. 
Die Verfassung des Jahres 1867 war von den 
Tschechen überhaupt nicht, von den Polen und 
Deutsch-Konservativen nur unter Protest ange- 
nommen worden. Die Tschechen boykottierten den 
Reichsrat und verstärkten hierdurch wesentlich die 
Stellung der Deutsch-Liberalen. 1871 beschloß der 
böhmische Landtag die sog. Fundamental- 
artikel, die die Grundsätze des böhmischen 
Staatsrechts, also eine Art Verfassungsurkunde 
für Böhmen als einen souveränen, mit den andern 
habsburgischen Ländern in Realunion verbundenen 
Staat, enthielten. In Wien hatte sich mittler- 
weile ein sehr kurzlebiger Systemwechsel vollzogen; 
ein Ministerium Hohenwart-Schäffle war gebildet 
worden zur Aussöhnung zwischen Krone und 
Tschechen, wie seinerzeit das Ministerium Belcredi 
zur Aussöhnung mit Ungarn. Hohenwart lehnte 
zwar die Fundamentalartikel ab, die Vorschläge, 
die er ihnen entgegensetzte, trugen aber ein aus- 
gesprochen föderalistisches Gepräge und hätten dem 
Königreich Böhmen eine weitgehende Selbständig- 
keit eingeräumt. Ein hiergegen von der deutsch- 
zentralistischen Bureaukratie unternommener, von 
Beust und Ungarn, das die Aufrollung der Natio- 
nalitätenfrage auf seinem Gebiet fürchtete, unter- 
stützter Ansturm brachte das Kabinett Hohen- 
wartzu Fall, den Deutsch-Liberalismus wieder ans 
Ruder. Dieser benutzte die wiedererlangte Macht, 
um 1873 durch Einführung der direkten Wahlen 
in den Reichsrat diesen von den Landtagen unab- 
hängig zu machen und hiermit seine politische 
Stellung zu stärken. 
Auch die 1873 ausgebrochene große Geldkrise, 
zu der die liberale Wirtschaftsgesetzgebung (Frei- 
handelssystem seit 1865, Wucherfreiheit, Freiteil- 
barkeit von Grund und Boden) wesentlich bei- 
getragen hatte und an der viele liberale Koryphäen 
durch Teilnahme an Gründungen beteiligt waren, 
konnte zunächst den Liberalismus noch nicht aus 
dem Sattel heben. Den Anstoß hierzu mußten 
wieder die außenpolitischen Verhältnisse geben. 
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