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Rußland hatte, bevor es sich 1877 zugunsten Bul-
gariens in einen Krieg mit der Türkei einließ, sich
der wohlwollenden Neutralität Osterreichs ver-
sichert und diesem hierbei im Vertrag von Reich-
-stadt freie Hand zugesichert, falls es sich veranlaßt
ehen sollte, die aufständischen türkischen Provinzen
Bosnien und die Hercegovina zu besetzen. Der
Berliner Kongreß 1878, der sich dann mit der
Bereinigung der durch den russisch-türkischen Krieg
angeregten Balkanfragen zubeschäftigen hatte, über-
trug Osterreich-Ungarn das Mandat, die aufstän-
dischen Provinzen zu besetzen und zu verwalten;
überdies wurde der Monarchie noch ein militäri-
sches Besetzungsrecht im türkischen Sandschak
Novipasar eingeräumt. Eine 1879 zwischen
Osterreich-Ungarn und der Türkei abgeschlossene
Konventiontraf Durchführungsbestimmungenhier-
zu, garantierte die Fortdauer der türkischen Sou-
veränität über die okkupierten Provinzen und die
Kultusfreiheit der hier ansässigen Mohammedaner.
Die beiden Parlamente Osterreich-Ungarns hatten
1879 ihre Zustimmung gegeben, aber im öster-
reichischen Parlament war das Gesetz gegen die
Stimmen der deutsch-liberalen Partei angenommen
worden. Ein gemäßigt konservatives Kabinett
Taaffe hatte das liberale Ministerium Auersperg
abgelöst, die Tschechen zur Aufgabe der Abstinenz-
politik bewogen und mit ihrer Hilfe das Okku-
pationsgesetz durchgebracht. Hiermit war eine
grundlegende Wendung in der innern Politik
Osterreichs vollzogen, die Vorherrschaft des deut-
schen Liberalismus endgültig beseitigt.
Der Kampf der Nationen im
Kurienparlament 1879/1907. Eine Re-
form des Reichstagswahlrechts im Jahr 1882, die
den Wahlzensus auf 10 Kherabsetzte, beschleunigte
den Zerfall der liberalen Herrschaft. Demokratische
Strömungen begannen auch im österreichischen
Parlament, das solang ein Schauplatz des aka-
demischen Doktrinarismus und der Vertretung
großkapitalistischer Interessen gewesen war, Boden
zu gewinnen. Es erfolgte die Reform der Ge-
werbeordnung im Sinne des Mittelstandschutzes;
die Arbeiterschutzgesetzgebung und die Krankheits-
und Unfallversicherung der Arbeiter wurde in den
1880er Jahren durchgeführt. Die christlich-soziale
und die sozialdemokratische Bewegung begannen
die Massen zu ergreifen, aber das plutokratische
Wahlrecht hielt sie einstweilen noch vor den Toren
des Parlaments zurück. Im Parlament selbst war
der Kampf um die Verfassung und um die sprach-
liche Herrschaft in Amt und Schule immer schärfer
geworden. Die konservativen Elemente in den na-
tionalen Lagern, denen die Vermittlung zugekom-
men wäre, waren dieser Aufgabe nicht gewachsen
und wurden durch den zunehmenden Radikalismus
in beiden Lagern auf die Seite geschoben. Ein
deutsch-böhmischer Verständigungsversuch im Jahr
1891 scheiterte an der demagogischen Verhetzung
des tschechischen Volks und kostete der konservativen
alttschechischen Partei das Leben. Auch im deut-
Osterreich-Ungarn.
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schen Lager konnte man sich nicht auf ein natio-
nales Programm einigen und verbifß sich in einen
unfruchtbaren nationalen Radikalismus. Ein Ver-
such des Ministeriums Taaffe, durch Einführung
des allgemeinen Wahlrechts den nationalen Ra-
dikalismus durch die sozialen Fragen zu ver-
drängen, mißlang und kostete dem Ministerium
das Leben. Eine Erweiterung des Wahlrechts durch
Graf Badeni 1896, die eine neue Kurie des allge-
meinen Stimmrechts neben die Kurien der privi-
legierten Wähler stellte, verstärkte noch die natio-
nalradikalen Elemente im Parlament. Die von
Badeni 1897 für Böhmen erlassenen Sprachenver-
ordnungen setzten die Doppelsprachigkeit der staat-
lichen Behörden fest und verlangten von allen Be-
amten die Beherrschung beider Landessprachen.
Hiergegen wandten sich die Deutschen, die einer-
seits das Parlament als zur Reglung sprachlicher
Fragen allein kompetent erklärten, anderseits aber
auch durch die Sprachenverordnungen in ihrem
nationalen Besitzstand bedroht wurden, da sie nicht
genügend sprachlich qualifizierte Anwärter auf
Beamtenposten im deutschen Sprachgebiet besaßen.
Die deutschen Abgeordneten griffen zur Obstruk-
tion und erzwangen so die Zurücknahme der
Sprachenverordnungen, die nun aber wieder mit
der Obstruktion von tschechischer Seite beantwortet
wurde.
Zehn Jahre wütete mit nur kurzen Unter-
brechungen die Obstruktion im österreichischen
Reichsrat. Der Schaden, den diese durch Lahm-
legung der wirtschaftlichen und sozialen Gesetz-
gebung, durch Korrumpierung der Abgeordneten
und der Büreaukratie, durch Verrohung des parla-
mentarischen und gesellschaftlichen Tons anrichtete,
ist unberechenbar. Es zeugt für die Lebenskraft
dieses Staats, daß er sich schließlich doch auf-
raffte und durch eine radikale Reform des Wahl-
rechts, durch Einführung des allgemeinen gleichen
und geheimen Stimmrechts die Vorbedingungen
der Parlamentsverwirrung abzuschneiden sich ent-
schloß.
3. Der demokratische Staat; Verfas-
sungsprobleme. Die 1907 durchgeführte Wahl-
reform kostete der altliberalen und der deutsch-
konservativen Partei das Leben. Beide Parteien, die
an der Wiege des österreichischen Parlamentaris-
mus gestanden, hatten sich in der letzten Zeit immer
mehr dem Volk und seinen Bedürfnissen entfrem-
det und zu sehr von Regierungsgunst gelebt, um
den richtigen Ton der Regierung gegenüber im
Parlament noch finden zu können. Sie hatten vor
allem aber auch versäumt, sich eine den modernen
Verhältnissen angepaßte Organisation, die ihren
Stützpunkt in den wirtschaftlichen Verbänden zu
suchen hatte, zu geben. Der Liberalismus stützte
sich auf die Übermacht seiner Presse, die konserva-
tive Partei auf die Unterstützung, die ihr von
einem Teil der Bischöfe und des hohen Klerus
zuteil wurde. Beide Faktoren versagten gegenüber
dem allgemeinen Stimmrecht. In dem auf 516