Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1495 
reichsdeuischen Pastoren unter dem Deckmantel 
des Kampfs gegen den Klerikalismus und gegen 
den römischen Internationalismus inszenierte Ab- 
fallsbewegung gegen die katholische Kirche (Los 
von Rom-Bewegung) führte zwar zu einer starken 
Vermehrung der protestantischen Gemeinden und 
Predigtstationen, muß aber schon jetzt in An- 
betracht der ausgewendeten Personal= und Finanz- 
mittel als gescheitert betrachtet werden. 
2. Die Verfassung der protestantischen 
Kirche ist geordnet durch Gesetz vom 15. Dez. 
1891. Als Organ des landesfürstlichen Kirchen- 
regiments für beide evangelischen Bekenntnisse 
(Augsburger und Helvetisches) fungiert der Ober- 
kirchenrat. Die Kirchenverwaltung ist aufgebaut 
auf der Pfarrgemeinde (Presbyterium und Ge- 
meindeversammlung). Zweite Stufe ist das 
Seniorat (Senior, Senioratsausschuß und Se- 
nioratsversammlung), dritte Stufe die Super- 
intendenz. Als höchstes Organ fungiert die 
Generalsynode. Die evangelische Kirche zählt 
10 Superintendenzen, 20 Seniorate, 268 Pfarren 
und 346 Seelsorger. Die griechisch-orien- 
talische Kirche zählt 1 Erzbistum (Czernowitz), 
2 Bistümer in Dalmatien und 361 Pfarren. Die 
Israeliten besitzen 555 Kultusgemeinden. 
Dieselben werden von gewählten Vorständen unter 
Staatsaufsicht verwaltet. 
Die interkonfessionellen Verhält- 
nisse sind durch das Gesetz vom 25. Mai 1868 
geregelt. Hiernach ist das Religionsbekenntnis der 
Eltern auch das ihrer Kinder bis zum 7. Lebens- 
jahr. Zwischen dem 7. und 14. Lebensjahr ist ein 
Religionswechsel nicht zulässig, nach diesem Zeit- 
punkt genügt hierfür eine Anzeige an die Ver- 
waltungsbehörde des Wohnsitzes. Die Seelsorger 
einer Konfession dürfen an Angehörigen anderer 
Konfessionen ohne ausdrückliches Ersuchen der- 
selben keine seelsorgerlichen Funktionen vornehmen, 
Angehörige einer Konfession können zu Beiträgen 
für Zwecke anderer Konfessionen, die nicht auf 
privatrechtlichen Titeln beruhen, nicht herangezogen 
werden. Keine Religionsgemeinschaft kann den 
nicht ihrer Konfession Angehörigen das anständige 
Begräbnis auf ihren Friedhöfen verweigern, falls 
diese hier ein Familiengrab besitzen oder sich in 
dieser Ortsgemeinde kein Friedhof der betreffenden 
Konfession befindet. 
Neue Religionsgesellschaften können durch Ver- 
ordnung des Kultusministers anerkannt werden, 
wenn der Bestand mindestens einer Kultusge- 
meinde gesichert ist und das betreffende Religions- 
bekenntnis nichts sittlich Anstößiges enthält. Das 
Verhältnis der Kirche zur Schule ist durch Gesetz 
vom 25. Mai 1868 geregelt. Hiernach steht dem 
Staat die oberste Leitung und Beaufsichtigung 
des gesamten Unterrichtswesens zu. Im Rahmen 
derselben verbleibt den Religionsgesellschaften die 
Besorgung und Beaufsichtigung des Religions= 
unterrichts in den Volks= und Mittelschulen. Der 
Unterricht in den übrigen Lehrgegenständen ist 
Osterreich-Ungarn. 
  
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unabhängig von dem Einfluß jeder Kirche, doch 
ist nach dem Reichsvolksschulgesetz von 1869 die 
sittlich-religiöse Erziehung Aufgabe der Volks- 
schule. Es steht jeder Religionsgesellschaft frei, 
aus ihren Mitteln Schulen für den Unterricht der 
Jugend von bestimmten Glaubensbekenntnissen zu 
errichten. Die vom Staat oder den autonomen 
Körperschaften errichteten Schulen stehen den Kin- 
dern aller Religionsbekenntnisse offen; die Lehr- 
stellen an denselben sind allen Staatsbürgern, die 
die gesetzlich vorgeschriebene Lehrbefähigung nach- 
weisen, zugänglich. Nur Religionslehrer bedürfen 
der Bestätigung durch die betreffende kirchliche 
Behörde. Lehrbücher der weltlichen Gegenstände 
bedürfen nur der Genehmigung der Unterrichts- 
verwaltung. In den Schulaufsichtsbehörden sind 
auch die Geistlichen aller Konfessionen vertreten, 
doch wird die allgemeine Schulaufsicht von aus 
dem Lehrstand hervorgegangenen Schulinspektoren 
und nur im Religionsunterricht von der kirchlichen 
Oberbehörde geübt. 
Durch die Aufhebung des Konkordats sind für 
das Eherecht wieder die Bestimmungen des 
B. G. B. in Kraft getreten. Hiernach betrachtet 
der Staat die Ehe als ein staatliches Institut und 
unterstellt sie seiner Rechtsprechung. Er trägt der 
kirchlichen Auffassung aber insoweit Rechnung, 
als er die staatliche Anerkennung an die Form der 
kirchlichen Eheschließung knüpft und das staatliche 
Forum zur Eheschließung nur dann zur Ver- 
fügung stellt, wenn sich der konfessionelle Seel- 
sorger aus vom Staat nicht anerkannten Gründen 
weigert, die Trauung vorzunehmen (Notzivilehe). 
Er erklärt ferner die Ehe dem Bande nach für un- 
lösbar, wenn auch nur einer der beiden Teile zur 
Zeit der Eheschließung katholisch war, und er an- 
erkennt das Ehehindernis der Priesterweihe und 
der vota sollemnia. Die Matrikenführung wird 
vom Klerus aller Konfessionen im Auftrag des 
Staats besorgt. 
Das gesamte Unterrichtswesen in Oster- 
reich steht unter staatlicher Leitung und Aufsicht, 
jedoch wird nur ein Teil der Schulen vom Staat 
erhalten. Staatlich sind alle Universitäten, bei- 
nahe alle andern Hochschulen, ein Teil der Mittel- 
chulen und nur ganz wenige Volksschulen. Ein 
anderer Teil der Mittelschulen wird von Ländern 
und Gemeinden, wieder ein anderer von Fach- 
korporationen und Privaten erhalten. Die Ele- 
mentarschulen werden teils von den Gemeinden 
teils von eignen Schulverbänden und den Ländern 
erhalten. Die Grundzüge der Organisation des 
Volksschulwesens sind im Gesetz vom 14. Mai 
1869 gegeben. Die näheren Ausführungen über 
Errichtung und Erhaltung der Schulen und über 
die Verhältnisse der Lehrpersonen sind durch die 
Landesgesetzgebung gegeben. Für die Volksschule 
besteht Schulzwang, die Schulpflicht dauert vom 
6. bis 14. Lebensjahr. Der Unterricht ist in den 
meisten Kronländern unentgeltlich. Trotzdem ist 
in Osterreich die Zahl der Analphabeten sehr groß: 
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