Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1535 
Konservativen in der Duma Graf Olsufjew und 
N. Durnovo (in den Sanktpetersburgskija 
Wiedomosti) energisch gegen den Panslawmiemus 
ausgesprochen; aber es ist zu befürchten, daß die 
Stimme einsichtsvoller Männer im Lärm der pan- 
slawistischen Agitation ungehört verhallen wird. 
Welchen Phantomen die Förderer dieser Agitation 
nachjagen, zeigt sich auch in der von manchen 
Panslawisten genährten Hoffnung, es werde 
Rußland gelingen, die verlorenen Balkanländer 
auf wirtschaftlichem Weg zurückzuerobern. 
Dabei wird übersehen, daß ein so verschuldeter 
und industriell zurückgebliebener Staat wie Ruß- 
land auf handelspolitischem Gebiet nicht kon- 
kurrenzfähig ist. Auch die Idee, das typisch- 
russische System des Kollektivgrundeigentums (Mir) 
außerhalb Rußlands einzuführen und so eine 
„Regeneration der westeuropäischen Agrarverhält- 
nisse“ zu bewirken, ist für panflawistische Zwecke 
nicht ausnützbar, um so mehr, als in der russischen 
Duma selbst über die Frage, ob dieses System 
aufrecht erhalten werden soll oder nicht, die größte 
Uneinigkeit herrscht. Der frühere Finanzminister 
Witte hat sogar die Aufhebung des Mir in Ruß- 
land eifrigst befürwortet. 
In Österreich gibt es eine große slawische 
Bevölkerung, deren kulturelle Entwicklung als vor- 
bildlich für die außerhalb Osterreichs lebenden 
Slawen bezeichnet werden kann. In bemerkens- 
werter Weise haben die einzelnen slawischen Völker 
einen eignen Entwicklungsgang eingeschlagen, der 
aber keineswegs zur Verwirklichung der panslawi- 
stischen Jdeale führen kann. Der Panslawismus 
kommt hier gewiß nicht auf seine Rechnung. Diese 
Nationen haben sich im Lauf der Jahrhunderte 
teils durch äußere Verhältnisse und das gegen- 
seitige Rivalisieren teils durch die nach der fran- 
zösischen Revolution erfolgte Wiederbelebung des 
Nationalitätsgedankens so differenziert und zer- 
splittert, daß die Idee der Rassengemeinschaft bei 
ihnen in den Hintergrund gedrängt worden ist. 
Durch die Schaffung mehrerer Sprachen, von 
welchen jede einzelne zur Literatur= und Kultur- 
sprache erhoben wurde, entstand zwischen den sla- 
wischen Völkern eine Kluft, die den panslawistischen 
Gedanken eher widerspricht als sie fördert. Jede 
slawische Nationalität ist auf ihre Geschichte und 
auf ihre neue Kultursprache so stolz, daß man 
sie im Namen des Panslawismus nicht zur Ein- 
führung einer einheitlichen allgemein slawischen 
Literatur-, Unterrichts= und Amtssprache zwingen 
kann. Versuche sind allerdings gemacht worden. In 
der ersten Hälfte des 19. Jahrh. tauchte unter den 
Slawophilen der Plan auf, die Kroaten, Serben 
und Slowenen sprachlich zu einigen. Der kroatische 
Dichter Ludwig Gaj (1809/72) sollte die Ein- 
heitssprache schaffen. Für diese Völker sollte der 
alte Namen „Illyrien“ wieder aufleben. Für alle 
Länder „Groß-Illyriens“, zu welchen Südsteier- 
mark, Kärnten, Krain, Görz, Istrien, Kroatien, 
Slawonien, Dalmatien, Bosnien, Hercegovina, 
Panslawismus. 
  
1536 
Montenegro, Serbien und Niederungarn gehörten, 
erschien in Agram eine Zeitung unter dem Titel 
„Illyrische Zeitung“, und Stephan Kukuljevik 
dichtete das Lied: „Was ist des Slawen Vater- 
land?" Die „Nationalkleidung“ bestand aus einer 
bulgarischen Sarka (Bauernrock), serbischen Opan- 
ken (Halbstiefeln) und einer roten Mütze „mit 
Sternen über dem liegenden Halbmond.“ Dieser 
Illyrismus wurde zwar von hervorragenden 
Männern (Bischof Haulik, Graf Draschkowitz, die 
Franziskaner) gefördert, hatte aber schnell seinen 
Höhepunkt überschritten und verlief im Sande. 
Die Reformation hatte den Anfang der slowenischen 
Selbständigkeit gebracht; Serben und Kroaten 
haben infolge der konfessionellen Differenzen einen 
andern Entwicklungsgang genommen, und der 
Gegensatz zwischen den beiden Völkern trat bei 
sehr vielen Gelegenheiten mit elementarer Gewalt 
hervor. Auch Slowaken und Tschechen lassen sich 
heute keineswegs als einheitliche Nationalität oder 
auch nur als einheitliche Slawengruppe bezeichnen, 
was zur Zeit der Hussitenkriege Tatsache gewesen 
sein mag und noch in den ersten Dezennien des 
19. Jahrh. angestrebt wurde. Tatsache ist aller- 
dings, daß der Panslawismus unter den Slo- 
waken seinen Anfang genommen hat. Ihre Dichter 
Jän Kollär (1793/1852) und Hruban (geb. 1847) 
haben zuerst die panflawistische Fahne entfaltet, 
um die sich dann die slowakische Jugend scharte. 
Unter den Tschechen sind außerhalb Ruß- 
lands die eifrigsten Agenten des Panslawismus 
zu finden. Man sagt, die Tschechen gebrauchten 
heute die russophilen Phrasen eigentlich nur als 
Popanz gegen die Deutschen. Zum Teil mag das 
wahr sein. Sie waren durch den deutsch-österreichi- 
schen Liberalismus so an die Wand gedrückt wor- 
den, daß sie als Protest gegen diese Vergewalti= 
gung moralischen Rückhalt beim Zaren suchten, 
und der Widerstand gegen die Autonomie Böh- 
mens hatte sie derart blind gemacht, daß sie 
glaubten, durch die russophile Propaganda, durch 
Volksversammlungen, durch die Presse und durch 
nationale Feste den Slawismus ins Volk tragen 
zu müssen. Schon während des polnischen Auf- 
stands vom Jahre 1863, als der Slawophile 
Katkow durch seine feurigen Apostrophen das rus- 
sische Nationalgefühl aufstachelte, nahmen auf 
tschechischer Seite Palacky und Rieger energisch 
Partei für Rußland und gegen die Polen. Rieger 
besuchte auch den russischen Botschafter Novikow 
sehr oft in Wien und verlangte als Führer der 
Alttschechen von diesem sehr eindringlich, er möge 
als Vertreter „des mächtigsten Beschützers aller 
Slawen“ zugunsten der großen panflawistischen 
Ziele auf die österreichische Regierung einen stär- 
keren diplomatischen Druck ausüben, indem er auch 
auf einen Krieg als letztes Mittel anspielte. No- 
vikow äußerte sich damals seinem Sekretär gegen- 
über: „Dieser Mann hat die unglaubliche Naivi- 
tät, mir Dinge zuzumuten, deren Verwirklichung 
mich in den Augen jedes Einsichtigen zu einem
	        
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