Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1578 
staat. Preußen hat, wie schon gesagt, die Pari- 
tät in seine Verfassung ausgenommen. Indessen 
läßt die praktische Durchführung der theoretisch 
anerkannten Parität, soweit die ein Drittel der 
Bevölkerung bildenden Katholiken in Betracht 
kommen, noch zu wünschen übrig. Die Beschwer- 
den der Katholiken in Preußen liegen im Gegen- 
satz zu Sachsen, Braunschweig und Mecklenburg 
nicht so sehr auf dem rein religiösen als auf dem 
staatsbürgerlichen Gebiet. Preußen gilt auch heute 
noch in weiten Kreisen als die „Vormacht des 
Protestantismus“, und seinen ihm imputierten 
und lange offen vertretenen „protestantischen Be- 
ruf“ hat es auch noch im 19. Jahrh. und nach 
der verfassungsmäßigen Anerkennung der Parität 
nie ganz verleugnen können. Aus vormärzlicher 
Zeit sei an die Ereignisse erinnert, die unter dem 
Namen „Kölner Wirren“ bekannt sind. Diese 
hatten ihren Grund in der Kabinettsorder Fried= 
rich Wilhelms III., wonach die Kinder aus ge- 
mischten Ehen der Religion des Vaters zu folgen 
hatten. Der Widerstand des Erzbischofs von Köln 
gegen diese Verordnung, die, der Form nach pa- 
ritätisch, in der Tat auf eine Förderung des Pro- 
testantismus auf Kosten der katholischen Kirche 
hinauslief, führte zu langwierigen, erst durch das 
Entgegenkommen Friedrich Wilhelms IV. bei- 
gelegten Streitigkeiten zwischen Kirche und Staat. 
Nach Einführung der Verfassung in den 1850er 
Jahren stellte die damals herrschende konservative 
Partei die Theorie vom „evangelischen Staat 
Preußen“ auf, und die Raumerschen Erlasse ver- 
folgten den Zweck, dieser Theorie praktische Gel- 
tung zu verschaffen. Nach der Gründung des 
Deutschen Reichs brach dann der heftige, unter 
dem Namen „Kulturkampf“ bekannte Konflikt 
zwischen dem preußischen Staat und der katho- 
lischen Kirche aus, der auch auf das Reich und 
eine Anzahl Bundesstaaten übergriff. Derselbe 
bedeutet seinem Wesen nach insofern einen Vor- 
stoß gegen die Parität, als die damals geschaffenen 
Kampfgesetze die Eigenart der katholischen Kirche 
und ihre Verfassung ganz und gar nicht berück- 
sichtigten. Die Gesetze betr. die Vorbildung und 
Anstellung der Geistlichen, betr. die Anzeigepflicht 
und das Einspruchsrecht des Staats sowie die 
Schaffung des königlichen Gerichtshofs für geist- 
liche Angelegenheiten, der das Recht haben sollte, 
Bischöfe abzusetzen, bildeten teils einen Eingriff 
in rein kirchliche Angelegenheiten, teils stellten sie 
den Versuch einer einseitigen staatsgesetzlichen Reg- 
lung der auf dem Grenzgebiet zwischen Staat und 
Kirche liegenden Fragen dar. Hierhin gehört ferner 
das allerdings nicht nur für Preußen, sondern für 
das ganze Reich gültige Jesuitengesetz, durch wel- 
ches eine von der katholischen Kirche anerkannte 
Ordensgemeinschaft unter ein Ausnahmegesetz ge- 
stellt wird. In der Gegenwart bringt besonders 
die Behandlung der Polenfrage in den östlichen 
Provinzen eine Verletzung der Parität mit sich. 
Demn der Kampf der Anfiedlungskommission gegen 
  
Parität. 
  
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das Polentum läuft, mag die Ausbreitung des 
Deutschtums auch das erste Ziel sein, doch tat- 
sächlich auch auf eine Zurückdrängung des katho- 
lischen zugunsten des protestantischen Elements 
hinaus. Weiter besteht noch immer eine gesetzliche 
Bestimmung aus der Zeit des kirchenpolitischen 
Konflikts, die dem König die Möglichkeit gibt, 
mit einem Federstrich sämtliche Ordensnieder- 
lassungen aufzuheben, und eine alte Kabinettsorder, 
welche jedem in gemischter Ehe lebenden protestan- 
tischen Offizier die Entlassung androht, wenn er 
seine Kinder katholisch erziehen läßt. 
Besonders fühlbar machte sich der Mangel an 
paritätischer Behandlung von jeher auf dem Ge- 
biet der Personalien. In den letzten 100 Jahren 
hat es in Preußen nur zehn katholische Minister 
gegeben, und von diesen zehn waren die meisten 
der Kirche, der sie äußerlich angehörten, innerlich 
entfremdet. Jahrzehntelang gab es in Preußen 
überhaupt keinen katholischen Minister. Auch zur- 
zeit (1909) weist das Staatsministerium eine 
rein protestantische Zusammensetzung auf. Nicht 
viel besser war es von jeher und ist es auch heute 
noch mit den höchsten Beamtenstellen in den Mi- 
nisterien und in der Provinz bestellt. Unter den 
Unterstaatssekretären und den Ministerialdirek- 
toren befinden sich nur ganz vereinzelt Katholiken; 
auch die Zahl der katholischen vortragenden Räte 
in den einzelnen preußischen Ministerien ist ver- 
hältnismäßig sehr gering. Von den zwölf preußi- 
schen Oberpräsidenten ist augenblicklich einer ka- 
tholisch, der der Rheinprovinz. Er ist der erste 
katholische Oberpräsident, den diese zu vier Fünf- 
teln katholische Provinz seit ihrer Einverleibung 
in den preußischen Staat vor 100 Jahren aufzu- 
weisen hat. 
Das System der Ausschließung der Katholiken 
von den höheren Staatsämtern wurde natürlich 
mit besonderer Schroffheit in der Zeit des Kultur- 
kampfs gehandhabt, und zwar nicht nur im un- 
mittelbaren Staatsdienst, sondern auch auf dem 
Gebiet der Selbstverwaltung. In letzterer Be- 
ziehung sind besonders bekannt die Fälle des 
Bonner Oberbürgermeisters Kaufmann und des 
Landrats Janssen. Kaufmann war im Jahre 
1874 zum drittenmal vom Stadtverordneten- 
kollegium einstimmig zum Bürgermeister gewählt 
worden. Daraufhin berief ihn die Königliche Re- 
gierung nach Köln, um ihn im Auftrag des Mi- 
nisters zu einer Erklärung in betreff des gegen- 
wärtigen Kampfs zwischen Staat und Kirche zu 
veranlassen. Kaufmann erklärte, daß er bereit sei, 
die Maigesetze auszuführen, verweigerte aber die 
Antwort, als der Kommissar ihn weiter fragte, 
ob er das auch gern tun werde. Seine Wahl 
wurde dann nicht bestätigt. Was den zweiten 
Fall anlangt, so war der Landrat des Kreises 
Heinsberg, Janssen, zum Bürgermeister von 
Aachen gewählt worden. Janssen war ein Mann, 
dem von amtlicher Seite neben vielem andern auch 
nachgerühmt wurde, daß er als erster deutscher 
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