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staat. Preußen hat, wie schon gesagt, die Pari-
tät in seine Verfassung ausgenommen. Indessen
läßt die praktische Durchführung der theoretisch
anerkannten Parität, soweit die ein Drittel der
Bevölkerung bildenden Katholiken in Betracht
kommen, noch zu wünschen übrig. Die Beschwer-
den der Katholiken in Preußen liegen im Gegen-
satz zu Sachsen, Braunschweig und Mecklenburg
nicht so sehr auf dem rein religiösen als auf dem
staatsbürgerlichen Gebiet. Preußen gilt auch heute
noch in weiten Kreisen als die „Vormacht des
Protestantismus“, und seinen ihm imputierten
und lange offen vertretenen „protestantischen Be-
ruf“ hat es auch noch im 19. Jahrh. und nach
der verfassungsmäßigen Anerkennung der Parität
nie ganz verleugnen können. Aus vormärzlicher
Zeit sei an die Ereignisse erinnert, die unter dem
Namen „Kölner Wirren“ bekannt sind. Diese
hatten ihren Grund in der Kabinettsorder Fried=
rich Wilhelms III., wonach die Kinder aus ge-
mischten Ehen der Religion des Vaters zu folgen
hatten. Der Widerstand des Erzbischofs von Köln
gegen diese Verordnung, die, der Form nach pa-
ritätisch, in der Tat auf eine Förderung des Pro-
testantismus auf Kosten der katholischen Kirche
hinauslief, führte zu langwierigen, erst durch das
Entgegenkommen Friedrich Wilhelms IV. bei-
gelegten Streitigkeiten zwischen Kirche und Staat.
Nach Einführung der Verfassung in den 1850er
Jahren stellte die damals herrschende konservative
Partei die Theorie vom „evangelischen Staat
Preußen“ auf, und die Raumerschen Erlasse ver-
folgten den Zweck, dieser Theorie praktische Gel-
tung zu verschaffen. Nach der Gründung des
Deutschen Reichs brach dann der heftige, unter
dem Namen „Kulturkampf“ bekannte Konflikt
zwischen dem preußischen Staat und der katho-
lischen Kirche aus, der auch auf das Reich und
eine Anzahl Bundesstaaten übergriff. Derselbe
bedeutet seinem Wesen nach insofern einen Vor-
stoß gegen die Parität, als die damals geschaffenen
Kampfgesetze die Eigenart der katholischen Kirche
und ihre Verfassung ganz und gar nicht berück-
sichtigten. Die Gesetze betr. die Vorbildung und
Anstellung der Geistlichen, betr. die Anzeigepflicht
und das Einspruchsrecht des Staats sowie die
Schaffung des königlichen Gerichtshofs für geist-
liche Angelegenheiten, der das Recht haben sollte,
Bischöfe abzusetzen, bildeten teils einen Eingriff
in rein kirchliche Angelegenheiten, teils stellten sie
den Versuch einer einseitigen staatsgesetzlichen Reg-
lung der auf dem Grenzgebiet zwischen Staat und
Kirche liegenden Fragen dar. Hierhin gehört ferner
das allerdings nicht nur für Preußen, sondern für
das ganze Reich gültige Jesuitengesetz, durch wel-
ches eine von der katholischen Kirche anerkannte
Ordensgemeinschaft unter ein Ausnahmegesetz ge-
stellt wird. In der Gegenwart bringt besonders
die Behandlung der Polenfrage in den östlichen
Provinzen eine Verletzung der Parität mit sich.
Demn der Kampf der Anfiedlungskommission gegen
Parität.
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das Polentum läuft, mag die Ausbreitung des
Deutschtums auch das erste Ziel sein, doch tat-
sächlich auch auf eine Zurückdrängung des katho-
lischen zugunsten des protestantischen Elements
hinaus. Weiter besteht noch immer eine gesetzliche
Bestimmung aus der Zeit des kirchenpolitischen
Konflikts, die dem König die Möglichkeit gibt,
mit einem Federstrich sämtliche Ordensnieder-
lassungen aufzuheben, und eine alte Kabinettsorder,
welche jedem in gemischter Ehe lebenden protestan-
tischen Offizier die Entlassung androht, wenn er
seine Kinder katholisch erziehen läßt.
Besonders fühlbar machte sich der Mangel an
paritätischer Behandlung von jeher auf dem Ge-
biet der Personalien. In den letzten 100 Jahren
hat es in Preußen nur zehn katholische Minister
gegeben, und von diesen zehn waren die meisten
der Kirche, der sie äußerlich angehörten, innerlich
entfremdet. Jahrzehntelang gab es in Preußen
überhaupt keinen katholischen Minister. Auch zur-
zeit (1909) weist das Staatsministerium eine
rein protestantische Zusammensetzung auf. Nicht
viel besser war es von jeher und ist es auch heute
noch mit den höchsten Beamtenstellen in den Mi-
nisterien und in der Provinz bestellt. Unter den
Unterstaatssekretären und den Ministerialdirek-
toren befinden sich nur ganz vereinzelt Katholiken;
auch die Zahl der katholischen vortragenden Räte
in den einzelnen preußischen Ministerien ist ver-
hältnismäßig sehr gering. Von den zwölf preußi-
schen Oberpräsidenten ist augenblicklich einer ka-
tholisch, der der Rheinprovinz. Er ist der erste
katholische Oberpräsident, den diese zu vier Fünf-
teln katholische Provinz seit ihrer Einverleibung
in den preußischen Staat vor 100 Jahren aufzu-
weisen hat.
Das System der Ausschließung der Katholiken
von den höheren Staatsämtern wurde natürlich
mit besonderer Schroffheit in der Zeit des Kultur-
kampfs gehandhabt, und zwar nicht nur im un-
mittelbaren Staatsdienst, sondern auch auf dem
Gebiet der Selbstverwaltung. In letzterer Be-
ziehung sind besonders bekannt die Fälle des
Bonner Oberbürgermeisters Kaufmann und des
Landrats Janssen. Kaufmann war im Jahre
1874 zum drittenmal vom Stadtverordneten-
kollegium einstimmig zum Bürgermeister gewählt
worden. Daraufhin berief ihn die Königliche Re-
gierung nach Köln, um ihn im Auftrag des Mi-
nisters zu einer Erklärung in betreff des gegen-
wärtigen Kampfs zwischen Staat und Kirche zu
veranlassen. Kaufmann erklärte, daß er bereit sei,
die Maigesetze auszuführen, verweigerte aber die
Antwort, als der Kommissar ihn weiter fragte,
ob er das auch gern tun werde. Seine Wahl
wurde dann nicht bestätigt. Was den zweiten
Fall anlangt, so war der Landrat des Kreises
Heinsberg, Janssen, zum Bürgermeister von
Aachen gewählt worden. Janssen war ein Mann,
dem von amtlicher Seite neben vielem andern auch
nachgerühmt wurde, daß er als erster deutscher
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