Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1575 
Prãfekt des Saardepartements in überaus schwie- 
riger Lage ein „ungemein hohes Maß persönlichen 
Mutes, fester Ausdauer und großer Umsicht“ ge- 
zeigt habe. Trotzdem wurde er als Bürgermeister 
von Aachen nicht bestätigt. 
Ausdrücklich muß noch betont werden, daß von 
katholischer Seite niemals eine sog. mechanische 
Parität verlangt worden ist, wonach die Zahl der 
Katholiken in öffentlichen Amtern der ziffern- 
mäßigen Stärke des katholischen Volksteils zu 
entsprechen hätte. Die Durchführung einer solchen 
mechanischen Parität wäre schon dadurch aus- 
geschlossen, daß auf verschiedenen Gebieten aus 
verschiedenen Ursachen heute noch die Katholiken 
nicht die gleiche Zahl von Bewerbern wie die Prote- 
stanten stellen; das gilt insbesondere von den Stel- 
lungen in Staat, Provinz und Gemeinde, welche 
den Abschluß einer gewissen realen Bildung zur 
Voraussetzung haben. Von den ersten Vorkämp- 
fern der Paritätsbewegung auf katholischer Seite 
wurde denn auch jederzeit entschieden betont, daß 
auf katholischer Seite selbst alles hinwegzuräumen 
ist, was der Verwirklichung der Gleichberechtigung 
irgendwie im Wege steht. Wenn die Katholiken 
ihren vollen Anteil an den öffentlichen Amtern 
fordern, so müssen sie ihrerseits die entsprechende 
Anzahl von Bewerbern stellen. Der Parität der 
Rechte hat die Parität der Leistungen zu ent- 
sprechen. 
Es bleibt noch die Frage zu beantworten, wel- 
chen Standpunkt die katholische Kirche zu der 
paritätischen Behandlung der im Staat bestehen- 
den Konfessionen einnimmt. Grundsätzlich hält sie 
daran fest, daß sie als die allein von Christus ge- 
stiftete Kirche die allein berechtigte, auch inner- 
halb des Staats allein berechtigte Form des 
Christentums ist. Darum hat Papst Pius IX. 
auch in Nr 77/79 des Syllabus die Thesen ver- 
urteilt, daß heutzutage die katholische Religion 
nicht mehr Staatsreligion sein könne, und daß es 
gut gewesen sei, daß in einigen katholischen Staa- 
ten Kultusfreiheit gewährt worden sei. Es ist 
aber nicht richtig, wenn man diese Sätze des Syl- 
labus als eine absolute Verwerfung der staatlichen 
Toleranz deuten will. Um den Sinn der Ver- 
urteilung zu verstehen, muß man in Betracht ziehen, 
daß die Veranlassung dazu gegeben wurde durch 
die lediglich kirchenfeindlichen Tendenzen ent- 
sprungene Verkündigung der Kurltusfreiheit in 
einigen bis dahin katholischen Staaten. Der 
grundsätzliche Standpunkt der Kirche hindert sie 
keineswegs, einmal bestehenden Verhältnissen Rech- 
nung zu tragen. Sie weiß, daß der Staat eine 
wesentlich andere Aufgabe hat als die Kirche, und 
daß eine so enge Verbindung zwischen dem Staat 
und der katholischen Kirche, wie sie im Mittel- 
alter bestanden hat, und die gegenseitige Durch- 
dringung staatlichen und katholisch -kirchlichen 
Wirkens nicht mehr möglich ist, wenn mehrere 
Konfessionen mit starker Anhängerzahl im Staat 
existieren, weil ihm sonst die Erfüllung seiner 
Parlamentarier — Parlamentarismus. 
  
1576 
eigentlichen Ausgaben unmöglich, seine gedeihliche 
Entwicklung unterbunden und beständiger innerer 
Unfriede unausbleiblich wäre. Dieser Standpunkt 
kommt auch in der Enzyklika Leos XIII. „Immor- 
tale Dei“ (1885) klar zum Ausdruck, in der es 
heißt: Die Kirche tadelt die Regierungen nicht, 
welche, um größere Übel zu vermeiden, dulden, 
daß mehrere Konfessionen im Staat bestehen. Es 
wird wohl behauptet, die Kirche stehe dem mo- 
dernen Staat innerlich ablehnend gegenüber, sie 
füge sich nur notgedrungen ins Unvermeidliche, 
weil ihr die äußern Machtmittel fehlten, um ihr 
Ideal der Glaubenseinheit zu verwirklichen; wenn 
die Zeitumstände günstig seien, würde sie aber 
nicht zögern, Irrlehren mit der ganzen Strenge 
der mittelalterlichen Strafgesetze auszurotten. Das 
trifft nicht zu. Die zukünftige Entwicklung der 
staatlichen und kirchlichen Verhältnisse läßt sich 
selbstverständlich nicht vorausbestimmen, aber was 
die grundsätzliche Seite der Frage, auf die es hier 
ja allein ankommt, anlangt, so genügt die Fest- 
stellung, daß keine dogmatische Entscheidung vor- 
liegt, welche einem katholischen Staat die Ver- 
pflichtung auferlegte, eine nichtkatholische Minder- 
heit zu unterdrücken, daß Leo XIII. das paritätische 
Staatssystem unter den historisch gewordenen Ver- 
hältnissen als notwendig anerkannt hat, und daß 
aus den mittelalterlichen Zuständen sich kein Prä- 
judiz für die Zukunft ergibt, weil ihre Wiederkehr 
nur möglich wäre bei einer Zurückschraubung 
unserer ganzen Entwicklung um Jahrbunderte. 
Literatur. J. T. B. v. Linde, Gleichberechti- 
gung der Augsburgischen Konfession mit der kathol. 
Religion in Deutschland (1853); H. Fürstenau, 
Grundrecht der Religionsfreiheit nach seiner ge- 
schichtl. Entwicklung u. heutigen Geltung in Deutsch- 
land (1891); Kahl, über P. (1895); B. v. Bonin, 
Praktische Bedeutung des ius reformandi (1902). 
Für Preußen ist eine Grundlage für die P.sbewe- 
gung auf kathol. Seite geschaffen in der Schrift: 
Die P. in Preußen. Eine Denkschrift (Köln 
21899, Bachem). L[Jul. Bachem.]) 
Parlamentarier s. Abgeordneter. 
Parlamentarismus. In dem Artikel 
Konstitutionalismus, auf den zur Erläuterung 
und Ergänzung des gegenwärtigen überhaupt zu 
verweisen ist, ist bereits (ogl. dort unter Abschn. 1 
und II, 1) der Begriff des Parlamentarismus und 
der wesentlichste Unterschied zwischen ihm und dem 
Konstitutionalismus im engeren Sinne im all- 
gemeinen erläutert. Jener geht von der Idee aus, 
daß die gesamte Staatsgewalt dauernd und un- 
veräußerlich in der Hand des Volks ruhe und 
von diesem selbst mittels des von ihm gewählten 
und als sein Willensorgan in die Erscheinung 
tretenden Parlaments ausgeübt werde, und zwar 
in der Weise, daß wieder das aus der Mehrheit 
des letzteren oder wenigstens gemäß den politischen 
Anschauungen dieser Mehrheit zu bildende Mini- 
sterium mit Verantwortlichkeit gegenüber dem 
Volk und dem Parlament unter einem Monarchen 
oder Präsidenten die Regierung des Landes führt.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.