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Prãfekt des Saardepartements in überaus schwie-
riger Lage ein „ungemein hohes Maß persönlichen
Mutes, fester Ausdauer und großer Umsicht“ ge-
zeigt habe. Trotzdem wurde er als Bürgermeister
von Aachen nicht bestätigt.
Ausdrücklich muß noch betont werden, daß von
katholischer Seite niemals eine sog. mechanische
Parität verlangt worden ist, wonach die Zahl der
Katholiken in öffentlichen Amtern der ziffern-
mäßigen Stärke des katholischen Volksteils zu
entsprechen hätte. Die Durchführung einer solchen
mechanischen Parität wäre schon dadurch aus-
geschlossen, daß auf verschiedenen Gebieten aus
verschiedenen Ursachen heute noch die Katholiken
nicht die gleiche Zahl von Bewerbern wie die Prote-
stanten stellen; das gilt insbesondere von den Stel-
lungen in Staat, Provinz und Gemeinde, welche
den Abschluß einer gewissen realen Bildung zur
Voraussetzung haben. Von den ersten Vorkämp-
fern der Paritätsbewegung auf katholischer Seite
wurde denn auch jederzeit entschieden betont, daß
auf katholischer Seite selbst alles hinwegzuräumen
ist, was der Verwirklichung der Gleichberechtigung
irgendwie im Wege steht. Wenn die Katholiken
ihren vollen Anteil an den öffentlichen Amtern
fordern, so müssen sie ihrerseits die entsprechende
Anzahl von Bewerbern stellen. Der Parität der
Rechte hat die Parität der Leistungen zu ent-
sprechen.
Es bleibt noch die Frage zu beantworten, wel-
chen Standpunkt die katholische Kirche zu der
paritätischen Behandlung der im Staat bestehen-
den Konfessionen einnimmt. Grundsätzlich hält sie
daran fest, daß sie als die allein von Christus ge-
stiftete Kirche die allein berechtigte, auch inner-
halb des Staats allein berechtigte Form des
Christentums ist. Darum hat Papst Pius IX.
auch in Nr 77/79 des Syllabus die Thesen ver-
urteilt, daß heutzutage die katholische Religion
nicht mehr Staatsreligion sein könne, und daß es
gut gewesen sei, daß in einigen katholischen Staa-
ten Kultusfreiheit gewährt worden sei. Es ist
aber nicht richtig, wenn man diese Sätze des Syl-
labus als eine absolute Verwerfung der staatlichen
Toleranz deuten will. Um den Sinn der Ver-
urteilung zu verstehen, muß man in Betracht ziehen,
daß die Veranlassung dazu gegeben wurde durch
die lediglich kirchenfeindlichen Tendenzen ent-
sprungene Verkündigung der Kurltusfreiheit in
einigen bis dahin katholischen Staaten. Der
grundsätzliche Standpunkt der Kirche hindert sie
keineswegs, einmal bestehenden Verhältnissen Rech-
nung zu tragen. Sie weiß, daß der Staat eine
wesentlich andere Aufgabe hat als die Kirche, und
daß eine so enge Verbindung zwischen dem Staat
und der katholischen Kirche, wie sie im Mittel-
alter bestanden hat, und die gegenseitige Durch-
dringung staatlichen und katholisch -kirchlichen
Wirkens nicht mehr möglich ist, wenn mehrere
Konfessionen mit starker Anhängerzahl im Staat
existieren, weil ihm sonst die Erfüllung seiner
Parlamentarier — Parlamentarismus.
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eigentlichen Ausgaben unmöglich, seine gedeihliche
Entwicklung unterbunden und beständiger innerer
Unfriede unausbleiblich wäre. Dieser Standpunkt
kommt auch in der Enzyklika Leos XIII. „Immor-
tale Dei“ (1885) klar zum Ausdruck, in der es
heißt: Die Kirche tadelt die Regierungen nicht,
welche, um größere Übel zu vermeiden, dulden,
daß mehrere Konfessionen im Staat bestehen. Es
wird wohl behauptet, die Kirche stehe dem mo-
dernen Staat innerlich ablehnend gegenüber, sie
füge sich nur notgedrungen ins Unvermeidliche,
weil ihr die äußern Machtmittel fehlten, um ihr
Ideal der Glaubenseinheit zu verwirklichen; wenn
die Zeitumstände günstig seien, würde sie aber
nicht zögern, Irrlehren mit der ganzen Strenge
der mittelalterlichen Strafgesetze auszurotten. Das
trifft nicht zu. Die zukünftige Entwicklung der
staatlichen und kirchlichen Verhältnisse läßt sich
selbstverständlich nicht vorausbestimmen, aber was
die grundsätzliche Seite der Frage, auf die es hier
ja allein ankommt, anlangt, so genügt die Fest-
stellung, daß keine dogmatische Entscheidung vor-
liegt, welche einem katholischen Staat die Ver-
pflichtung auferlegte, eine nichtkatholische Minder-
heit zu unterdrücken, daß Leo XIII. das paritätische
Staatssystem unter den historisch gewordenen Ver-
hältnissen als notwendig anerkannt hat, und daß
aus den mittelalterlichen Zuständen sich kein Prä-
judiz für die Zukunft ergibt, weil ihre Wiederkehr
nur möglich wäre bei einer Zurückschraubung
unserer ganzen Entwicklung um Jahrbunderte.
Literatur. J. T. B. v. Linde, Gleichberechti-
gung der Augsburgischen Konfession mit der kathol.
Religion in Deutschland (1853); H. Fürstenau,
Grundrecht der Religionsfreiheit nach seiner ge-
schichtl. Entwicklung u. heutigen Geltung in Deutsch-
land (1891); Kahl, über P. (1895); B. v. Bonin,
Praktische Bedeutung des ius reformandi (1902).
Für Preußen ist eine Grundlage für die P.sbewe-
gung auf kathol. Seite geschaffen in der Schrift:
Die P. in Preußen. Eine Denkschrift (Köln
21899, Bachem). L[Jul. Bachem.])
Parlamentarier s. Abgeordneter.
Parlamentarismus. In dem Artikel
Konstitutionalismus, auf den zur Erläuterung
und Ergänzung des gegenwärtigen überhaupt zu
verweisen ist, ist bereits (ogl. dort unter Abschn. 1
und II, 1) der Begriff des Parlamentarismus und
der wesentlichste Unterschied zwischen ihm und dem
Konstitutionalismus im engeren Sinne im all-
gemeinen erläutert. Jener geht von der Idee aus,
daß die gesamte Staatsgewalt dauernd und un-
veräußerlich in der Hand des Volks ruhe und
von diesem selbst mittels des von ihm gewählten
und als sein Willensorgan in die Erscheinung
tretenden Parlaments ausgeübt werde, und zwar
in der Weise, daß wieder das aus der Mehrheit
des letzteren oder wenigstens gemäß den politischen
Anschauungen dieser Mehrheit zu bildende Mini-
sterium mit Verantwortlichkeit gegenüber dem
Volk und dem Parlament unter einem Monarchen
oder Präsidenten die Regierung des Landes führt.