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Einschränkungen ist daher das unten unter 3 als
geltende parlamentarische Maxime (um das Wort
Recht zu vermeiden) Vorgetragene zu verstehen.
Die Bedeutung dieses Zustands ist von nicht
zu unterschätzender Tragweite. Hat die Übung
nicht die Kraft eines abändernden Gewohnheits-
rechts, so sind zum mindesten die Rechtsgrund-
sätze des geschriebenen Verfassungsrechts nicht auf-
gehoben; sie bestehen vielmehr fort und können
ohne weiteres und ohne Verfassungsänderung
wieder in die Praxis eingeführt werden. Andern
sich die Verhältnisse, fällt jene politische Not-
wendigkeit, sich dem Parlament unterzuordnen,
für den Monarchen fort, fühlt letzterer sich politisch
stark genug, die verfassungsgesetzlichen Grundsätze
auch politisch durchzusetzen, so steht einem solchen
Unternehmen rechtlich nichts entgegen; eine Ver-
fassungsverletzung würde dadurch nicht begangen
werden. Für England paßt diese Konstruktion
allerdings nicht. Hier besteht, wie bereits bemerkt,
keine Kodifikation des monarchischen Rechts; es
ist die monarchische Gewalt nur durch einzelne
Gesetze eingeschränkt. Die Frage ist daher hier
die, ob dem englischen Monarchen alle diejenigen
Rechte eines konstitutionellen Monarchen zustehen,
die ihm nicht ausdrücklich durch diese Einzelgesetz-
gebung entzogen sind, und ob keines derselben
durch Nichtgebrauch erloschen sei. So z. B. ob
ihm, wie von vielen behauptet, von andern aber
auch bestritten wird, das Vetorecht gegenüber den
vom Parlament beschlossenen Gesetzen verloren
gegangen ist, nachdem es seit dem Jahre 1632
nicht mehr ausgeübt wurde. Unter solchen Um-
ständen kann es kaum überraschen, daß von manchen
englischen Staatsrechtslehrern dem englischen König
im wesentlichen die Stellung eines konstitutionellen
Monarchen vindiziert, oder daß von deutschen
Staatsrechtslehrern dies dahin formuliert wird,
England sei juristisch auch heute noch keine parla-
mentarische Monarchie, sondern nur im politischen
Sinne. Der Engländer selbst pflegt auch — ob
in diesem Bewußtsein, mag dahingestellt bleiben —
das Verfassungs= und Regierungssystem seines
Landes nicht als parlamentarisches zu bezeichnen;
er nennt es ein konstitutionelles, constitutional
government. Geschichtliche Vorgänge können
diese Ansichten nur unterstützen. Man braucht nur
an die untergeordnete Rolle zu erinnern, welche
das englische Parlament den Tudors, namentlich
Heinrich VIII. und Elisabeth gegenüber gespielt
hat, und an die Tatsache, daß auch späterhin es
den englischen Monarchen noch manches Mal
gelungen ist, ihren Willen dem Parlament auf-
zudringen. Man begegnet daher auch der Ansicht,
daß eine ausgesprochen streng parlamentarische
Übung mit unbezweifelter Vorherrschaft des Unter-
hauses dort erst vom zweiten Rücktritt des Mini-
tarismus. 1580
festgestellt wurde. Es kann daher nicht für aus-
geschlossen gelten, daß unter Begünstigung durch
allgemeine politische Verhältnisse ein Monarch
ohne Verfassungswidrigkeit wieder Zustände her-
beiführen könnte, welche den ehedem herrschenden
konstitutionellen konform oder wenigstens ähnlich
sind. Was unter kraftvollen Tudors sich ereignete,
kann unter klugen Coburgern sich wiederholen.
Monarchische Staaten mit parlamentarischer
Regierungsweise in Europa sind zurzeit folgende:
Portugal, Spanien, Luxemburg, England, Bel-
gien, Dänemark, Norwegen, Schweden, Rumänien,
Bulgarien, Serbien, Griechenland, Osterreich,
Ungarn und JItalien.
2. Auch in den Republiken hat die parlamen-
tarische Regierungsform wohl nirgends einen ad-
äquaten verfassungsgesetzlichen Ausdruck gefunden,
so z. B. nicht in der Verfassung der heutigen fran-
zösischen Republik. Es mögen hierbei ähnliche
Erwägungen obgewaltet haben wie bei der gleichen
Unterlassung, deren oben hinsichtlich der Mon-
archien Erwähnung geschah. Indessen sind hier
Anzweiflungen des verfassungsrechtlichen Zu-
stands im oben angeführten Sinne nicht zu er-
warten, im übrigen auch, da hier statt des auf
Lebenszeit berufenen und durch Erbgang bezeich-
neten Monarchen ein nur auf Zeit gewählter
Präsident oder kollegialer Vorstand an der Spitze
des Staatswesens steht, ohne jene praktische Trag-
weite, zumal hier einer sofortigen gesetzlichen Klar-
stellung kaum Hindernisse entgegengesetzt werden
könnten.
3. Wie die konstitutionell regierten Staaten,
so haben auch die parlamentarisch regierten ihr
Verfassungssystem sehr verschieden ausgebaut; ja
die Verschiedenheit ist bei diesen weit größer als
bei jenen. Während der Konstitutionalismus im
eigentlichen Sinne nur als Monarchie auftritt, ist
der Parlamentarismus, wie eingangs schon be-
merkt, nicht an diese Staatsform allein gebunden,
sondern findet seine Verwirklichung auch in Repu-
bliken; hier bildet er ausnahmslos die Regierungs-
weise. Ob ferner der Monarch durch eine verfas-
sungsmäßig festgestellte Erbfolge oder auf Grund
einer Wahl — Wahlmonarchien gibt es indessen
zurzeit nicht, wenn auch noch gewählte Monarchen
— andie Spitze des Staats gestellt wird, ob in den
Republiken ein Präsident oder ein Kollegium als
oberstes Staatsorgan vorgesehen ist, ob die danach
erforderlichen Wahlen unmittelbar vom Volk oder
von der Volksvertretung vorgenommen werden, ob
der Monarch auf Lebenszeit oder das sonstige
oberste Staatsorgan auf diese oder jene kürzere
oder längere Periode gewählt wird, sind Fragen,
die von den verschiedenen Verfassungen sehr ver-
schieden geregelt werden, aber für den Parlamen=
tarismus als System ohne wesentliche Bedeutung,
steriums Melbourne und dem Beginn des Mini-
steriums Peel im Jahre 1841 datiere. Das Re-
ultat wäre demnach hier das gleiche, welches eben
für die Staaten mit geschriebenen Verfassungen
wenn auch hie und da von praktischer Tragweite
sind. Auch ist es kein wesentliches Kriterium des
Parlamentarismus, daß etwa das oberste Staats-
organ, wie dies in Frankreich in der Zeit von