Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1585 Parteien, 
dem Jahre 1848, in dem das Land eine Ver- 
fassung erhielt. In der konstituierenden National- 
versammlung von 1848 gab es zwei Hauptpar- 
teien: die Demokraten (unter Führung Waldecks), 
die die Mehrheit besaßen, und Gemäßigt-Liberale, 
sog. Konstitutionelle. Eine scharfe Scheidung und 
Absonderung der Parteien nach bestimmten Pro- 
grammen gab es in dieser Zeit und in den folgen- 
den Jahren, wo noch alles im Werden war, nicht. 
Diese einfache Gruppierung blieb anfangs auch 
noch in dem am 26. Febr. 1849 zusammentreten- 
den ersten Landtag der Monarchie bestehen, nur 
war in der Zweiten Kammer die Mehrheit von 
den Demokraten auf die Konstitutionellen über- 
gegangen. Die beiden Gruppen waren in sich nur 
einig über die Frage der Anerkennung oder Nicht- 
anerkennung der oktroyierten Verfassung. Sobald 
diese Frage im Sinne der Konstitutionellen ent- 
schieden war, traten die innern Gegensätze hervor. 
Sowohl von der äußersten Rechten, zu der u. a. 
Otto v. Bismarck und v. Kleist-Retzow gehörten, 
wie von der äußersten Linken (Waldeck, Bucher, 
Jacobi) lösten sich ein rechtes und ein linkes 
Zentrum und andere Gruppen ab. Für diese 
Fraktionsbildungen war vielfach mehr das per- 
sönliche Ansehen einzelner Führer als der Unter- 
schied des Programms maßgebend. Auch in der 
bis zur Schaffung des Herrenhauses (1854) be- 
stehenden, aus Wahlen hervorgegangenen Ersten 
Kammer gab es zwei Hauptgruppen, eine Rechte 
und eine Linke. Die äußerste Rechte bildete die 
sog. Kreuzzeitungspartei unter Führung von 
v. Gerlach und v. Stahl. Die Zweite Kammer 
verfiel schon im April 1849 der Auflösung. An 
den folgenden zum erstenmal unter der Geltung 
des Dreiklassenwahlrechts vollzogenen Kammer- 
wahlen beteiligten sich die Demokraten nicht. Die 
äußerste Rechte gewann eine sich bei den Wahlen 
von 1852 und 1855 stets steigernde Mehrheit. 
Die Minderheit bildeten eine Anzahl altliberaler 
Gruppen. Während der folgenden neunjährigen 
sog. Reaktionsperiode traten die Demo- 
kraten von 1848 angesichts der Aussichtslosigkeit 
ihrer radikalen Bestrebungen fast vollständig vom 
öffentlichen Leben zurück und überließen den Alt- 
liberalen oder „Gothaern“ (so nannte man sie 
nach den Mitgliedern der ihnen gleichgesinnten 
Mittelparteien der Frankfurter Nationalversamm- 
lung, die im Jahr 1849 in Gotha eine Zusammen- 
kunft veranstaltet hatten) die Vertretung des Libe- 
ralismus. 
Die konservative Partei auf der Rechten be- 
nutzte ihre Macht, um die konstitutionellen Er- 
rungenschaften wieder möglichst zunichte zu machen. 
Einseitiger Protestantismus führte die verfassungs- 
feindlichen Konservativen zur Aufstellung der Theo- 
rie vom „evangelischen Staat Preußen“ und zu 
Versuchen, diese Theorie in die Praxis überzu- 
setzen. Die Raumerschen Erlasse des Jahres 1852 
gaben die unmittelbare Veranlassung zur Grün- 
dung der katholischen Fraktion (30. Nov. 
  
politische. 1586 
1852), die sich die Verteidigung der bedrohten 
Rechte der Katholiken zur Aufgabe stellte. Ihre 
bedeutendsten Führer waren die Brüder Peter und 
August Reichensperger. Obwohl die politischen 
Anschauungen der Mitglieder der neuen Partei 
zum Teil weit auseinander gingen, war man doch 
bestrebt, auch in politischen Dingen möglichst ge- 
schlossen aufzutreten. Infolge ihrer Oppositions- 
stellung gegen die konservative Majorität traten 
die katholischen Abgeordneten auch in rein poli- 
tischen Fragen, vor allem wenn es sich um die 
Verteidigung der Verfassung handelte, häufig auf 
die Seite der Linken. Da sie zum größten Teil 
aus der Rheinprovinz stammten, wurden sie viel- 
fach als „rheinische Liberale“ bezeichnet. In der 
Sturm= und Drangperiode des preußischen Kon- 
stitutionalismus hat die katholische Fraktion die 
richtige Mitte zwischen dem extremen verfassungs- 
feindlichen Konservativismus der Rechten und — in 
der Konfliktszeit — dem Radikalismus der Linken 
innegehalten. Obwohl die Fraktion trotz ihres 
konfessionellen Charakters sich praktisch auf den 
Boden des paritätischen Staats stellte, obwohl sie 
bei der Verteidigung der bedrohten katholischen 
Interessen sich auch die dankbare Anerkennung 
von Juden und Dissidenten erwarb, empfand man 
in parlamentarischen Kreisen die Sammlung einer 
Fraktion unter dem konfessionellen Banner doch 
vielfach als eine Herausforderung. Im Interesse 
ihrer Aktionsfreiheit sah sich die Fraktion daher 
im Jahre 1859 veranlaßt, ihre alte Bezeichnung 
„katholische Fraktion“ nur noch als Zusatz ihres 
neuen Namens „Zentrum“ bestehen zu lassen. 
Im Jahre 1862 unternommene Versuche, der 
Partei ein politisches Programm zu geben, 
scheiterten an der innern Uneinigkeit. Diese Un- 
einigkeit, Eifersüchteleien innerhalb der Fraktion 
und vor allem ein angesichts der Kirchenpolitik 
der Regierung allerdings erklärlicher, immer mehr 
erstarkter Oppositionsgeist bei den Katholiken 
führten im Lauf der 1860er Jahre den Zerfall 
der Fraktion herbei. „Die Begeisterung der Katho- 
liken erlahmte“, so äußerte sich August Reichens- 
perger später, „als der Fortschritt" uns während 
der Konfliktsperiode die Popularität abjagte“ (vgl. 
Pastor, August Reichensperger 1 467). Bei den 
Wahlen von 1861 hielt sich die Fraktion noch in 
der Stärke von 54 Mitgliedern, um im Jahre 1862 
auf 32 und 1863 auf 26 Mitglieder zurückzu- 
gehen. Nach 1867 gab es zwar noch katholische 
Abgeordnete im Parlament, aber keine katholische 
Fraktion mehr. 
Ein Umschwung in den Parteiverhältnissen trat 
im Jahre 1858 nach der Übernahme der Regent- 
schaft durch den Prinzen Wilhelm ein. Die Neu- 
wahlen dieses Jahres ergaben eine altliberale 
Mehrheit unter Führung v. Vinckes. Eine 
Stütze fand der erstarkende Liberalismus an dem 
im Jahre 1860 gegründeten Nationalverein, der 
im Sinne des Liberalismus eine Lösung der deut- 
schen Frage unter Führung Preußens und unter
	        
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