Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1597 
aus, und tatsächlich hat die Fraltion wiederholt 
streng evangelische Männer als Hospitanten ge- 
zählt, namentlich den früheren Führer der kon- 
servativen Fraktion v. Gerlach, der in dem rhei- 
nischen Wahlkreis Sieg-Mülheim-Wipperfürth 
ins preußische Abgeordnetenhaus gewählt wurde, 
sowie den früheren Unterstaatssekretär im hanno- 
verschen Unterrichtsministerium, Dr Bruel. Die 
im Programm niedergelegten Grundsätze haben 
im Lauf der Geschichte die Haltung der Partei 
im einzelnen wie folgt gestaltet. Dem föderativen 
Charakter des Reichs entsprechend ist sie stets für 
Wahrung der Rechte der Einzelstaaten eingetreten 
und hat insbesondere der von der Linken geforderten 
Übernahme der den Einzelstaaten vorbehaltenen 
direkten Besteuerung auf das Reich Widerstand 
geleistet. Sie tritt ein auf politischem Gebiet für 
das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahl- 
recht im Reich und in den Einzelstaaten, für die 
Wahrung des Budgetrechts der Volksvertretung 
und für die Selbstverwaltung der Kommunen. In 
wirtschaftlicher Beziehung steht sie auf dem Stand- 
punkt der ausgleichenden Gerechtigkeit. Von diesem 
Standpunkt tritt sie ein für Förderung der In- 
teressen aller Erwerbsstände im Rahmen des Ge- 
meinwohls, im besondern für Schutz und Stär- 
kung der wirtschaftlich Schwachen im Arbeiter- 
und Mittelstand und für die Verteilung der öffent- 
lichen Lasten nach dem Grad der Leistungsfähig- 
keit. Sie ist Anhängerin des Schutzzollsystems 
als des zurzeit den nationalen Bedürfnissen des 
Reichs allein entsprechenden Wirtschaftssystems. 
Auf kirchenpolitischem Gebiet verlangt sie Durch- 
führung der verfassungsmäßigen Parität sowie 
Gleichberechtigung und Freiheit der Religions= 
gemeinschaften. Kirche und Staat betrachtet sie 
als koordinierte, auf ihrem Gebiet souveräne Ge- 
walten, die in Eintracht zusammen wirken sollen. 
Daher ist die Partei Gegnerin der Trennung 
von Kirche und Staat; auf dem Gebiet der 
Schule fordert sie die Konfessionsschule. Ver- 
möge ihrer numerischen Stärke, ihrer Hingebung 
an die parlamentarischen Aufgaben und ihrer be- 
sonnenen Politik hat die Zentrumsfraktion beson- 
ders im deutschen Reichstag großen Einfluß auf die 
Entwicklung der öffentlichen Verhältnisse ausgeübt. 
Während der ersten Jahre ihres Bestehens wurde 
sie fast ausschließlich von dem Kampf um die kirch- 
liche Freiheit in Anspruch genommen. Unter 
hervorragenden Führern wie v. Mallinckrodt, den 
beiden Reichensperger, v. Schorlemer-Alst und 
Windthorst führte die Fraktion den Kampf gegen 
die Maigesetze mit immer wachsendem Erfolg, so 
daß nach und nach die mit dem kirchlichen Recht 
am wenigsten verträglichen Bestimmungen beseitigt 
wurden. Sobald der kirchenpolitische Konflikt an 
Schärfe verlor und wichtige staatliche Aufgaben 
in den Vordergrund des Interesses traten, beteiligte 
sich die Zentrumsfraktion eifrig an ihrer Lösung. 
So lieh sie im Jahre 1879 bei dem Übergang 
Deutschlands zur Schutzzollpolitik dem Fürsten 
Parteien, politische. 
  
1598 
Bismarck ihre ausschlaggebende Mitwirkung. 
Besondere Aufmerksamkeit hat sie von jeher den 
sozialpolitischen Aufgaben geschenkt. Schon im 
Jahre 1877, als die Regierung sich ihnen gegen- 
über noch gänzlich ablehnend verhielt, brachte sie 
im Reichstag einen umfassenden sozialpolitischen 
Antrag ein. Die spätere sozialpolitische Gesetz- 
gebung des Deutschen Reichs ist unter ihrer führen- 
den und stets anregenden Mitwirkung zustande 
gekommen. Bei der Schaffung des B. G. B. und 
der deutschen Flotte sowie bei der großen Reichs- 
finanzreform des Jahres 1909 hat sie entscheidend 
mitgewirkt. 
Im Lauf des Jahres 1909 machte sich unter 
den Katholiken des Reichs kine Bewegung bemerk- 
bar, welche darauf abzielte, der Zentrumsfraktion 
ein konfessionelles Gepräge zu geben. Die Wort- 
führer dieser Bewegung, unter denen sich zwei Mit- 
glieder der Zentrumsfraktion des deutschen Reichs- 
tags (Roeren und Bitter) befanden, brachten eine 
„Definition“ des Zentrums in Vorschlag, dahin 
lautend: „Das Zentrum ist eine politische Partei, 
die sich zur Aufgabe gestellt hat, die Interessen des 
gesamten Volks auf allen Gebieten des öffent- 
lichen Lebens im Einklang mit den Grundsätzen 
der katholischen Weltanschauung zu vertreten."“ 
In der Auseinandersetzung, welche sich innerhalb 
der Zentrumspartei über diese Definition entspann, 
wurde dieselbe von der weit überwiegenden Mehr- 
heit der Zentrumsblätter sowie der damit be- 
faßten Zentrumsorganisationen abgelehnt. Am 
28. Nov. 1909 befaßte sich dann auf Anregung 
des Provinzialausschusses der rheinischen Zen- 
trumspartei in einer zu Berlin abgehaltenen 
Sitzung der Vorstand der Zentrumsfraktion des 
deutschen Reichstags sowie der Landesausschuß 
der preußischen Zentrumspartei, welchem der Vor- 
stand der Zentrumsfraktion des preußischen Ab- 
geordnetenhauses angehört, mit dieser Angelegen- 
heit. Es wurde einstimmig eine Erklärung ange- 
nommen und veröffentlicht, welche aussprach: 
„Die Zentrumspartei ist grundsätzlich eine po- 
litische, nichtkonfessionelle Partei; sie steht auf dem 
Boden der Verfassung des Deutschen Reichs, welche 
von den Abgeordneten fordert, sich als Vertreter des 
gesamten deutschen Volks zu betrachten." 
Die Erklärung enthält weiter die folgenden Sätze: 
„Mit diesem grundsätzlichen Charakter steht kei- 
neswegs im Widerspruch, daß die Zentrumspartei in 
den langen Jahren des Kulturkampfs die Abwehr 
der gegen den katholischen Volksteil gerichteten 
Maßnahmen auf dem Gebiet der Gesetzgebung und 
Verwaltung als erste und dringendste Aufgabe be- 
trachten mußte, und daß es auch heute noch eine 
ihrer vornehmsten Pflichten ist, die staatsbürger- 
liche Gleichberechtigung der katholischen Minderheit 
zu wahren. Auch in der Erfüllung dieser Pflicht 
hat die Zentrumspartei niemals den Charakter 
einer politischen Partei verleugnet, welche auf den 
rechtlichen Grundlagen eines konfessionell gemischten 
Staats zu wirken berufen ist. Abgesehen von dem 
Programm bietet die Tatsache der Zugehörigkeit 
fast aller ihrer Wähler und ihrer Abgeordneten zur
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.