1608
fassungspartei“ der Liberalen (Verfassungstreuen).
Die Christlich-Sozialen sind auf dem besten Wege
zu ihr. In allen Ländern haben wir selbständige,
in sich abgeschlossene konservative Parteien, welche
ihre Grundlage und ihre Spitze, Volk und Führer,
nur innerhalb der Landesgrenzen haben.
Im österreichischen Abgeordnetenhaus
gesellten sich zeitweilig gegenüber der zentralistischen
Parteigruppe, die fast ausschließlich aus den libe-
ralen Deutschfreiheitlichen bestand, als föderalisti-
sche Gruppe zu Polen, Tschechen, Slowenen und
Kroaten die Christlich= Sozialen, in welche die
Deutsch-Konservativen, ihre früheren Gegner, nach
und nach aufgingen. Sie sind nur noch im Herren-
haus sowie im Tiroler Landtag vertreten. Doch
wie einerseits die Liberalen gelegentlich einen Teil
ihres Gruppenbestands wegen seiner politischen
Maßlosigkeit abstießen, so konnten auch die deut-
schen Föderalisten sich gegenüber den Maßlosig-
keiten der Jungtschechen im gegebenen Fall nicht
der „deutschen Gemeinbürgschaft“ entziehen. Die
„polnische Delegation“, wie die Vertreter Ga-
liziens sich nennen, ist im Polenklub ohne Rücksicht
aufpolitische Verschiedenheit der einzelnen vereinigt
und durchaus föderalistisch. Zwei Fraktionen haben
ganz spezifisch nationalen Charakter: die Jung-
tschechen und die Alldeutschen, neben denen die
Deutsch-Radikalen und die stark zusammenge-
schmolzenen Deutsch-Liberalen zu nennen sind.
Alldeutsche und Deutschradikale (Wolf) sind ziem-
lich dasselbe; die Hauptgruppe auf der liberalen
Seite sind die Deutschnationalen. Zusammen
bilden sie alle den Verband der „deutsch freiheit-
lichen“ Parteien. Während sich sowohl die tsche-
chischen wie die deutschen Sozialdemokraten der
nationalen Gegensätzlichkeit fernhielten, verschärfte
diese sich unter tschechischer Führung durch die sla-
wische Evolution (Union), der aber die Polen
offiziell nicht beitraten, so daß ein vermittelndes
Element übrig blieb. Als besondere slawische
Gruppen sind aufzuführen: Polen, Slowenen und
Kroaten, die im einzelnen wieder verschiedenen
Richtungen folgen, Ruthenen, Jungtschechen,
Tschechisch-Radikale, tschechische Agrarier, katho-
lisch-nationaler Tschechenklub. Die Italiener glie-
dern sich in Konservative und Liberale.
In Ungarn schien das lange sehr stark ver-
wirrte Parteileben neuerdings auf historischer
Grundlage wieder zu einer Klärung gelangt zu
sein. Es zeichneten sich ab die Verfassungspartei
unter Andrassy (die alte liberale Partei), die na-
tionale Fortschrittspartei unter Kossuth und Ap-
ponyi und die stark vorwärts drängende Unab-
hängigkeitspartei unter Justh. Die Weiterentwick-
lung aber, welche das Verhältnis Ungarns zu
Osterreich unter der neuen Parteikonstellation zu
nehmen drohte, führte notgedrungen Einwirkungen
von Wien herbei, als deren Folge sich eine neue
Grundlage für die Parteigruppierung ergab. Die
Verfassungspartei löste sich auf; ihre Mitglieder
schlugen sich größtenteils mit dem sonstigen Be-
Parteien,
politische. 1604
stand der alten liberalen Partei unter Tisza und
einer neueren demokratischen Richtung zu der neuen
nationalen Arbeitspartei (Regierungspartei Khuen-
Tisza). Die in die Gruppen Kossuth und Justh
gespaltenen Unabhängigen drängten als Oppo-
sition wieder zum Zusammenschluß. Die natio-
nalistische katholische Volkspartei näherte sich der
neuen Regierungspartei. Im großen und ganzen
zeichneten sich die Parteigegensätze in der Weise
ab, daß man sie als 1898er und 1867er kenn-
zeichnete. Die kroatische Gruppe, zeitweilig auf
seiten der Unabhängigen stehend, nahm wieder
Fühlung mit der Richtung Khuen-Tisza.
Das Parteiwesen in Frankreich verschiebt und
nuanciert sich dem Volkscharakter gemäß leichter als
in andern, nichtromanischen Ländern. War die
dritte Republik anfänglich mehr konservativ, so er-
hielt sie im Lauf der Jahrzehnte, namentlich mit Be-
ginn des neuen Jahrhunderts, ein immer stärkeres
radikales Gepräge, gemessen an der Zusammen-
setzung der Deputiertenkammer. Der radikal-sozia-
listische Block bildete eigentlich den Höhepunkt dieser
Entwicklung, doch vermochte nach dessen Lockerung
der Radikalismus auch allein die „wahre und echte“
Republik durch die Vergewaltigung heiliger, hi-
storischer Rechte zu verkörpern, nachdem der So-
zialismus durch einige allerdings parteiamtlich
desavouierte Vertreter auch in die Regierung ge-
langt war. Von links nach rechts zählt man in
der Deputiertenkammer die geeinten Sozialisten,
die zeitweilig, unter Führung von Jaures, den
von Clémenceau so genannten Block der Revolu-
tion mitbildeten, dann aber ihre eignen Wege
gingen und sich gegen die Regierung wendeten, als
blockfrei auch radikaler auftraten. Dieser großen
sozialistischen Gruppe zur Seite geht diejenige der
unabhängigen Sozialisten, eine kleine Organi-
sation. Die große Regierungspartei setzt sich zu-
sammen aus den Sozialistisch-Radikalen und den
Radikalen, die 1909 in der Kammer über 300
ausmachten, davon die letzteren ein Drittel. Die
Sozialistisch-Radikalen stellen die eigentlichen Kul-
turkämpfer. Die einst so starke Partei der Oppor-
tunisten Gambettaschen Andenkens ist heute unter
dem Namen der Fortschrittler auf ein kleines
Häuflein zusammengeschmolzen; dieses bildet das
gemäßigte Zentrum. Noch kleiner ist die Gruppe
der Nationalisten, die sich vielfach zur Rechten
halten, geführt von Gauthier de Clagny, Admi-
ral Bienaimé, Barrès und andern. Den Kern
der katholischen Opposition bilden die Anhänger
der Action libérale populaire, jene Politiker,
die sich entschlossen auf den Boden den republika-
nischen Verfassung gestellt haben, deren Führer
Piou ist und zu denen der verdiente Graf de
Mun gehört. Was man Rechte im engsten Sinne
nennt, ist eine in Fragen der Religion zwar einige,
sonst aber buntscheckige Gruppe von Imperialisten,
Legitimisten, Orleanisten und andern, die deshalb
für die Abstimmungen eine meist unbestimmte,
durchweg gleichgültige Größe bedeuten. Durch die