Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1605 Parteien, 
Zuspitzung des radikalen Unterdrückungskampfes 
gegen die Katholiken, zumal auch auf dem Gebiet 
der Schule, hat sich der französischen Katholiken 
als solcher unter bischöflicher Anleitung ein kräf- 
tiger Einigungstrieb bemächtigt. Ihm folgend, 
schließen sie sich zusammen, um ohne Rücksicht auf 
politische Parteifarbe mit dem Nachdruck des gan- 
zen Gewichts, das ihre Einigkeit ihnen verleiht, 
das eine Recht des katholischen Gewissens geltend 
zu machen. Diese Aktion geht selbständig neben 
der sonstigen politischen Betätigung der Katholiken 
her, wie diese in den verschiedenen Kammerfrak= 
tionen der Rechten zum Ausdruck gelangt. 
In England haben sich zwar nicht die Na- 
men, wohl aber die Parteiunterschiede verwischt. 
Die konservativen Tories hatten aufgehört, für 
die jeder Neuerung unzugängliche Partei zu gelten, 
denn sie vollbrachten häufig, was ihre politischen 
Gegner, die liberalen Whigs, nur angebahnt hat- 
ten, sie schritten den letzteren bisweilen in der Ver- 
tiefung angestrebter Reformen voran. Gladstones 
irische Reformpolitik öffnete dann die Kluft wieder 
so weit, daß ein großer Teil seiner eignen Partei 
von ihm absprang und sich mit den Konservativen 
umierte. Damit war, augenscheinlich für lange, 
der eigentliche, programmtreue Liberalismus von 
der Herrschaft im Lande abgedrängt. Hinzu kam 
ein weiteres Element der Spaltung, der im Buren- 
krieg betätigte Imperialismus, d. h. die Länder- 
erwerbssucht, dem sich aus Selbsterholtungsrück- 
sichten ein Teil der liberalen Partei auch nicht 
glaubte entziehen zu können (Lord Rosebery). Die 
liberale Gruppe umfaßt so die Autonomisten-Po- 
litiker, die gewissen Teilen Großbritanniens ein 
höheres Ausmaß vön Selbstbestimmungsrecht 
wünschen, Gegner der staatlichen Hochkirche und 
Radikale, denen die bisher ins Werk gesetzten Re- 
formen im Staatswesen nicht genügen. Die irische 
Nationalistenpartei ist durchweg — wenn nicht 
Angelegenheiten wie die Frage der konfessions- 
losen Schulen trennend wirken — die Verbündete 
der Liberalen. Unbefriedigter Ehrgeiz und unpoli- 
tisches Draufgängertum brachten eine kleine Ab- 
splitterung unter O'Brien vom Gros der Natio- 
nalistenpartei zuwege. Die Irländer streben seit den 
Tagen des großen Agitators O'Connell die volle 
Autonomie ihrer Insel an. Gladstone setzte die Ziele 
der irischen Nation auf sein Arbeitsprogramm. 
Der starke Rückschlag, den diese Politik auf seinen 
Parteibestand asübte, dann auch die anderweite 
Orientierung der Tagespolitik drängten diesen 
liberalen Programmpunkt zeitweilig zurück. Die 
chauvinistisch-imperialistische Welle, die aus An- 
laß des Burenkriegs über Großbritannien ging, 
hatte die unierten Konservativen und gemäßigt 
Liberalen — letztere wenigstens großenteils — auch 
im Punkt einer neuen Wirtschaftspolitik auf die 
Seite des für den Burenkrieg verantwortlichen 
Kolonialministers Chamberlain gezogen, und so 
spielten sich die ersten Wahlen im neuen Jahr- 
hundert unter dem Feldgeschrei „Für oder wider 
  
politische. 1606 
den Schutzzoll“ ab. Es kam zu einem völligen Um- 
schwung in der Zusammensetzung der Parteigruppen 
des Unterhauses. Mehr und mehr trat innerhalb 
der gewaltigen liberalen Mehrheit der radikale 
Gedanke hervor, und diese Tatsache wirkte auch auf 
das Kabinett ein, in dem neben sehr radikalen 
Persönlichkeiten auch ein ausgesprochener Sozialist 
Plat fand, freilich darum von seiner eignen Partei 
verleugnet, dem sozialistischen Flügel der Arbeiter- 
partei, die ursprünglich im großen und ganzen nur 
radikal, immer weiter nach links rückte, und zwar 
in demselben Maße, wie die Regierung mit man- 
chen ihrer Schritte weiter ins sozialistische Fahr- 
wasser geriet. Dies führte zu dem großen Ver- 
fassungskampf gegen das Oberhaus und die Unio= 
nisten Ende 1909. Die Arbeiter im Parlament 
gliedern sich in die unter ausgesprochen sozialisti- 
scher Führung stehende eigentliche Arbeiterpartei 
sowie in die Gruppe der Vertreter der Bergleute 
und die der Vertreter der Gewerkvereine. Sie gehen 
meist zusammen. 
An Nuancierungen und Abzweigungen inner- 
halb der größeren Parteigruppierungen hat es 
zwar auch in Holland schon lange nicht gefehlt, 
aber sie bildeten doch keine solchen politischen 
Machtfaktoren, daß sie auch auf dem Kampffeld 
der allgemeinen Wahlen selbständige Ansprüche 
erhoben hätten. Das ist in neuerer Zeit anders ge- 
worden. Aus der konservativ-protestantischen Par- 
tei, die sich unter dem Namen der Antirevolutionäre 
sammelt, schälten sich die Christlich-Historischen 
heraus, konfessionell gerichtet wie jene, aber mehr 
das einseitig protestantische Prinzip hervorkehrend 
und Wahlbündnissen mit den Katholiken weniger 
geneigt. Allerdings haben die Christlich-Histori- 
schen ihre Domäne auch durchweg in ganz über- 
wiegend protestantischen Bezirken, so daß die Frage 
des Zusammengehens mit den Katholiken für sie 
auch weniger lokal als generell in Betracht kommt. 
Den Kern der Liberalen bildet die liberale Union; 
neben ihr macht sich die schärfere Tonart in der 
freisinnig-Ddemokratischen Gruppe geltend sowie 
eine freiliberale Sonderrichtung. Wie die Anti- 
revolutionäre und Christlich-Historischen einerseits, 
so sind die Katholiken anderseits als politische 
Partei auf konfessioneller Grundlage organisiert 
undttragen deshalb auch den entsprechenden Partei- 
namen (Katholischer Kammerklub). Als Vertreter 
des christlichen Gedankens, den die Antirevolutio- 
näre nach dem Ausspruch ihres Führers Kuyper 
ausdrücklich gegenüber dem liberalen „Paganis- 
mus“ verfechten, finden sich die Katholiken mit 
den Protestanten zu einer durchweg geschlossenen 
Mehrheit im Parlament zusammen. Ahnlich, wenn 
auch nicht in gleich starkem Grade, wie in Belgien 
zeigt sich am katholischen Stamm ein christlich- 
demokratischer Zweig. Die Sozialdemokratie hat 
sich in zwei Richtungen verschiedener Tonart ge- 
spalten: die sozialdemokratische Partei und die so- 
zialdemokratische Arbeiterpartei; die schärfere Ton- 
art weist gelegentlich anarchistische Anklänge auf. 
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