Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1607 Parteien, 
Die Schweiz oder Eidgenossenschaft ist nicht 
erst in neuester Zeit zum Spielball politischer Par- 
teiungen geworden. Schon Napoleon 1. stieß bei 
seinen ersten Feldzügen dort auf eine solche innere 
Zerrissenheit, wie sie die Unterwerfung des sonst 
so leicht zu verteidigenden Landes nur zu fördern 
geeignet war. Vergeblich suchte die Restauration 
die helvetischen Verhältnisse in jener Richtung zu 
konsolidieren. Frankreich und Italien über- 
schwemmten die kleine Republik mit revolutionären 
Elementen, die im Innern jener Staaten nicht 
geduldet wurden. Die Schweiz machte alle poli- 
tischen Wandlungen der europäischen Kontinental- 
staaten mit, bewegte sich aber bei freierem Spiel- 
raum und geringerer Körperschwere rascher und 
unbehinderter vorwärts. Im Jahre 1847 siegte 
die Fortschrittspartei im Sonderbundskrieg über 
die Urkantone. Die Konservativen wurden aller- 
orten unterdrückt, und 1870 traf der Altkatholizis-= 
mus (Christkatholizismus) nirgends auf wärmere 
Sympathien und ein innigeres Verständnis als 
in der Westschweiz, wo die Kirche von da an 
Gegenstand eifrigster Verfolgung wurde. Die 
Farben der politischen Parteien der helvetischen 
Republik sind nicht immer leicht zu unterscheiden, 
doch sucht der Radikalismus möglichst geschlossen 
nach außen aufzutreten, was durch sein Bemühen, 
bei der Herrschaft zu bleiben, erklärt wird. Die 
Demokratie ist zahlenmäßig nicht stark vertreten 
und steht der herrschenden Partei öfter gegnerisch 
gegenüber, die Sozialdemokratie gleichfalls, wenn 
es sich um radikale Parteimachtfragen handelt. 
Den Katholisch-Konservativen und Christlich-So- 
zialen schließt sich gelegentlich der protestantische 
Konservativismus gegen die eignen radikalen 
Glaubensgenossen an. 
Was Belgien betrifft, so treffen wir die alten 
Parteien der Konservativen und Liberalen auch in 
diesem Lande an. Nur zerfallen die Liberalen in 
verschiedene Zweige und stehen, wenn Radikale, 
den Sozialdemokraten bedenklich nahe. Nicht daß 
sie ganz die nämlichen Ziele verfolgten, davor 
werden sie durch Eigensucht und verschiedene soziale 
Stellung bewahrt, doch huldigen sie einem krassen 
Materialismus, gleich wie die Sozialdemokratie, 
und da in demselben Grad, wie sie gegenüber der 
vordringenden Sozialdemokratie in ihren früheren 
Domänen an Macht einbüßten, ihr Neid und 
Haß gegen die sich behauptenden Katholiken zu- 
nahm, zeigten sie sich gern willig, mit dem Um- 
sturz den antiklerikalen Block zu bilden. Zu den 
Sozialdemokraten, die dem Arbeiterstand ange- 
hören, aber auch Männer von Vermögen und 
Bildung unter sich zählen, kommen noch als Abart 
die Anarchisten, die Gewalttat und Umsturz als 
die allein geeigneten Mittel betrachten, die alte 
Ordnung in Staat und Gesellschaft aufzulösen. 
Dem Liberalismus hat die Sozialdemokratie be- 
reits starken Abbruch getan, wodurch sich einer- 
seits die Annäherung mancher Altliberalen an die 
Katholisch-Konservativen, anderseits der Über- 
  
politische. 1608 
gang vieler zu der radikaleren Richtung erklärt. 
Der alte, doktrinäre Liberalismus verliert immer 
mehr an Boden, und nach und nach werden 
Katholiken und Sozialdemokraten die eigentlichen 
Gegner des Tages sein. Die belgischen Katholiken 
haben dank ihrer Einigkeit die politische Gewalt 
durch die Fährlichkeiten verschiedener Wahlsysteme 
hindurch jahrzehntelang behauptet und auch der 
liberal-sozialistischen Koalition getrotzt; dafür er- 
stand ihnen aus dem Schoß der eignen Partei 
eine Mahnung zu fortschreitendem sozialen Wirken 
durch die Bildung der christlich -demokratischen 
Partei, ähnlich wie eine solche auch in Italien 
dem zäheren Konservativismus eine lebendige Lehre 
bedeutet. Die Abgrenzung der jungen Rechten 
gegen die alte konservative trat sehr deutlich in die 
Erscheinung beim Kampf um die Militärreform. 
Die Entstehung des geeinigten Königreichs 
Italien drückt auch seiner Parteiorganisation 
das Siegel auf. Es war nicht nur das Fuori 
stranieri und die Indipendenza, was die ge- 
heimen Klubs und Verbindungen von 1848 und 
1859 endlich 1870 anstrebten, sondern die apen- 
ninische Republik, die den alten Verschwörern vor 
Augen schwebte. Wenn sich nun auch das unter 
den blinkenden Bajonetten vollzogene Plebiszit 
für die Monarchie unter dem Hause Savoyen 
aussprach, so blieb noch immer als ein Rest 
früherer Wünsche und Bestrebungen eine starke 
republikanische Partei zurück. Die parlamen- 
tarische Mehrheit haben die in eine gemäßigte 
und eine radikalere Richtung sich scheidenden, von 
Fall zu Fall sich bekämpfenden, dann wieder ge- 
einigten Monarchisten. An ihrer Seite fand man 
bei Abstimmungen durchweg die neue, wenn auch 
noch kleine Gruppe der katholischen Abgeordneten, 
die meist als christliche Demokraten anzusehen sind. 
Die Wahl derselben ins Parlament wurde ermög- 
licht durch die bedingte Aufhebung des päpstlichen 
Non expedit, nachdem durch örtliche kommunale 
und sozialpolitische Organisationen bereits ein 
katholischer Wahlkörper geschaffen war. Die sozial- 
politische Regsamkeit der jüngeren Katholiken hatte 
teils ermunternd teils zur Muße abdrängend 
auf die zurückhaltenden älteren Elemente gewirkt, 
in Einzelfällen allerdings auch zu Zielüberschrei- 
tungen geführt, die aber der ganzen Bewegung 
nicht schaden konnten. Höherem Wunsch gemäß 
traten die katholischen Abgeordneten im Parla- 
ment nicht als geschlossene katholische Partei auf; 
als der Versuch gemacht wurde, sich als demo- 
kratisches Zentrum zu konstituieren, stieß auch dies 
zunächst auf maßgebenden Einspruch. Die Rechte 
kann man als liberal-konservativ ansehen, das 
rechte und das linke Zentrum als mehr liberal bis 
demokratisch. Neben der demokratischen Gruppe 
kommt man zu den Radikalen, Sozialisten und 
Republikanern. Unter diesen befürwortet ein Teil 
die augenblickliche Abschaffung der Monarchie, 
während der andere für eine gewisse Schonzeit 
eintritt. Ein unterscheidendes politisches Moment 
 
	        
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