Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

163 Kirchengewalt, 
Zeit Pius IX. führte, indem er in zahlreichen Allo- 
kutionen und Schreiben sowie in der authentischen 
Sammlung der von ihm verworfenen Sätze die 
Eingriffe der Staatsgewalt in kirchliche Angelegen- 
heiten zurückwies. Ganz das gleiche spricht 
Leo XIII. aus, indem er in der außerordentlich 
schönen Enzyklika De civitatum constitutione 
christiana die alte kirchliche Lehre in gelehrt 
wissenschaftlicher Form wiederholt. 
Wie alle Glaubenswahrheiten der Kirche im 
Laufe der Jahrhunderte Anfechtungen verschie- 
dener Art seitens der Irr= und Ungläubigen zu 
bestehen hatten, so konnte auch der Kampf gegen 
die Wahrheiten betreffs der Verfassung der Kirche 
und ihrer Stellung gegenüber dem Staate nicht 
ausbleiben. Er konnte das um so weniger, als 
diese Wahrheiten den Beherrschern dieser Erde 
Grenzen ihrer Macht festsetzen und ihnen solche 
Schranken anweisen, die sich den Herrschgewaltigen 
oft unangenehm fühlbar machen. Das ist der 
letzte Grund des langen, wohl bis zum Ende der 
Zeiten dauernden Kampfes zwischen dem imperium 
und dem sacerdotium. Die Kämpfe um den 
Einfluß des Staates auf die Kirche, welche in die 
Verfassungskämpfe der Kirche zumeist verwoben 
sind, spielten sich vornehmlich seit dem großen 
okzidentalischen Schisma ab. Auch diese Kämpfe 
hatten eine viel detailliertere Entwicklung und 
festere Begründung der kirchlichen Lehrsätze zur 
Folge, die dann auch auf die Lehre von der Auf- 
gabe, der Natur und dem Kompetenzbereiche des 
Staates helles Licht warfen. Die diesbezüglichen 
autoritativ aufgestellten Lehren der Kirche finden 
sich meist negativ, d. h. in Form von Verwerfung 
falscher Behauptungen ausgesprochen. Die haupt- 
sächlichen Lehrsätze der Kirche bezüglich ihrer Un- 
abhängigkeit vom Staate seien hier kurz zusam- 
mengestellt. 
Der leitende Grundsatz, daß die Kirche eine in 
ihrer Sphäre autonome, mit eigener, vom Staat 
unabhängiger Gewalt ausgerüstete Gesellschaft sei, 
wurde namentlich von Pius IX. zu wiederholten 
Malen feierlich ausgesprochen und fand neue Be- 
stätigung in der Verurteilung der 19. These des 
Syllabus: Ecclesia non est vera perfecta- 
due societas plane libera, nec pollet suis 
pProprüs et constantibus iuribus sibi a di- 
vino suo fundatore collatis, sed civilis po- 
testatis est definire, duae sint Ecclesiae iura 
ac limites, intra qduos eadem iura exer- 
cere queat; ferner in der dieses Verzeichnis be- 
gleitenden Enzyklika Quanta cura, welche den 
Satz verwirft: Ecclesiasticam potestatem non 
esse iure divino distinctam et independentem 
a potestate civili. Ihr Recht, unabhängig vom 
Staate Gesetze zu geben und innerhalb ihrer 
Kompetenzsphäre Anordnungen zu treffen, mußte 
die kirchliche Autorität oft im Streite über das 
königliche Plazet oder Exsequatur einschärfen und 
verteidigen; so Klemens XlI. in den Konstitu- 
tionen Nova semper vom 29. Nov. 1714 und 
  
landesherrliche. 164 
Accepimus nuper vom 11. Jan. 1715; Kle- 
mens XIII. in der Konstitution Alias ad apo- 
stolatus vom 30. Jan. 1768; Pius IX. in der 
28. und 29. These des Syllabus. Dem Landes- 
herrn als solchem steht prinzipiell kein Recht zu, 
mitzuwirken bei der Besetzung der Bischofssitze 
(50. These des Syllabus) und darum noch weniger 
bei der Besetzung niederer Kirchenämter. Endlich 
wurde die ganz allgemeine Wahrheit von Pius IX. 
authentisch verkündet, daß dem Landesherrn keinerlei 
ius in sacra zukomme. Pius IX. verurteilte den 
Satz: Civilis auctoritas potest se immiscere 
rebus, duae ad religionem, mores et regimen 
spirituale pertinent etc. 
Viel pochten die Verteidiger der landesherr- 
lichen Kirchengewalt auf die Rechte des Staates 
gegeyüber der Kirche (die sog. iura circa sacra). 
Man sagt wohl am besten, daß sie diese als 
Operationsbasis zum Angriff gegen die kirchliche 
Unabhängigkeit und zur Beseitigung derselben 
benutzten. Daß der Staat der Kirche gegenüber 
gewisse Rechte hat, läßt sich sicher nicht leugnen. 
Er hat auch Rechte gegenüber einem andern, von 
ihm vollkommen unabhängigen Staate, wie ja 
auch einer freien physischen Person einer andern 
gegenüber Rechte zukommen. Dieses staatliche 
Recht gegenüber der Kirche wurde nun aber so 
weit ausgedehnt, daß auf diesem Umwege ein 
Kirchenhoheitsrecht aus ihm wurde. Man kann 
diese fälschlich so genannten iura circa sacra, 
welche in ihrer Konsequenz die Kirche vollkommen 
zur Dienerin des Staates machen müssen, mit 
Walter (Kirchenrecht " 104 ff) auf vier zurück- 
führen: a) das Recht, die Kirche zu beschützen 
(ius advocatiae); b) das Recht, sich und seine 
Untertanen vor der Kirche und den Ausschrei- 
tungen der Kirchengewalt zu schützen (ius ca- 
vendi), welches dann das Oberaussichtsrecht über 
die Kirche, das Plazetrecht, das Recht der Mit- 
wirkung bei Anstellung von Kirchenbeamten, das 
Recht, Appellationen in rein kirchlichen An- 
gelegenheiten anzunehmen, in sich schließt; c) das 
Recht, die Bedingungen festzustellen, unter wel- 
chen der Staat die Kirche anerkennt; d) das 
Obereigentumsrecht über das Kirchengut. Diese 
jura circa sacra wurden vorzüglich in Frankreich 
(Gallikanismus, s. d. Art) und in Deutschland 
(Febronianismus, s. d. Art) betont. Zu ihren 
Gunsten berief man sich im erstgenannten Lande 
auf die althergebrachten Gewohnheiten und Ein- 
richtungen der französischen Kirche (vgl. die dritte 
unter den vier sog. gallikanischen Freiheiten), in 
Deutschland, das stark unter dem Einflusse prote- 
stantischer Ideen stand, auf den Inhalt der landes- 
fürstlichen Territorialgewalt. Der Gallikanismus 
wurde zu wiederholten Malen verworfen, so z. B. 
von Innozenz XI. am 11. April 1682, von 
Alexander VIII. (Konstitution Inter multiplices 
vom 1. Aug. 1690), dann von Pius VI. (Kon- 
stitution Auctorem fidei vom 28. Aug. 1794). 
  
  
Der Febronianismus wurde als System verurteilt
	        
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