Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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gerichte, die allgemeine Schulpflicht usw. ein. Sein 
diktatorisches Regiment machte ihm jedoch viele 
Feinde, auch gab man ihm mit Grund die Mit- 
schuld an der finanziellen Mißwirtschaft. In der 
Nacht vom 22./23. Febr. 1866 wurde er durch 
eine Verschwörung zur Abdankung gezwungen und, 
nachdem der Graf von Flandern auf Wunsch der 
Mächte eine Wahl abgelehnt hatte, auf Anregung 
Napoleons der Prinz Karl von Hohengollern 
durch Volksbeschluß am 20. April zum erblichen 
Fürsten ausgerufen. Während die Mächte noch 
zögerten, reiste er auf Rat Bismarcks incognito 
durch Osterreich und zog am 22. Mai in Bukarest 
ein. Am 12. Juli wurde eine neue Verfassung 
angenommen und damit das parlamentarische 
Regime eingeführt. Die Pforte erkannte ihn am 
21. Okt. als erblichen Fürsten und zugleich end- 
gültig die Union (bei Cusa nur auf Lebenzszeit) 
an, aber unter scharfer Betonung des Vassallitäts- 
verhältnisses und unter Verpflichtung zu 4 Mill. 
Piastern Tribut. 
Gleich zu Beginn seiner Regierung machte Ru- 
mänien schwere Krisen durch infolge der Händel 
der Parteien (Weiße oder Konservative unter 
Catargiu, Rote oder Liberale unter Bratianu, 
Radikale unter Rosetti) und des Zusammenbruchs 
des Strousbergkonsortiums (1870), das mit staat- 
licher Zinsgarantie einen Teil der Bahnbauten 
übernommen hatte. Der Fürst dachte wiederholt 
an Abdankung, doch schuf das Ministerium Ca- 
targiu 1871/76 wieder stabile Zustände und eine 
Reihe von Reformen, namentlich im Finanzwesen 
(Tabakmonopol, Branntweinlizenz). 1876 kamen 
die Liberalen unter Bratianu zur Regierung (bis 
1888). Unter ihm errang Rumänien seine Un- 
abhängigkeit durch Beteiligung am Krieg Ruß- 
lands gegen die Türkei, wofür es durch die per- 
sönliche Tätigkeit Karls militärisch vorbereitet war 
(Militärgesetz vom 13. Juni 1868 nach preußi- 
schem Muster). Die Unabhängigkeit wurde gleich 
zu Beginn des Kriegs am 22. Mai 1877 aus- 
gerufen und durch die Berliner Kongreßakte vom 
13. Juli 1878 anerkannt, mußte jedoch durch Ab- 
tretung des 1856 gewonnenen Teils von Bessara- 
bien an Rußland gegen die wenig wertvolle 
Dobrudscha und (18. Okt. 1879) durch Anerken- 
nung der Gleichberechtigung der Juden erkauft 
werden. Am 26. März 1881 erfolgte die Er- 
hebung zum Königreich. Durch Rußland ent- 
täuscht, schloß sich Rumänien seitdem an Osterreich 
und Deutschland an (Besuche Karls in Wien und 
Berlin 1883). 1882/85 wurde die Unabhängig- 
keit der rumänischen Kirche vom Patriarchat in 
Konstantinopel erwirkt, 1883 ein katholisches Erz- 
bistum in Bukarest geschaffen. Seit 1888 wech- 
seln wieder Liberale (Führer Demeter Sturdza, 
seit 1909 Joan Bratianu) und Konservative (unter 
Cantacuzino) in der Regierung ab. Von den Kon- 
servativen hat sich wiederholt eine jungkonservative 
Gruppe (Junimisten) unter P. Carp, 1908 eine 
an Bedeutung wachsende konservativ-demokratische 
Rumänien. 
  
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Partei (oder Takisten) unter Take Jonescu ab- 
getrennt. Infolge des im Frühjahr 1907 aus- 
gebrochenen Bauernaufstands wurden durch die 
Ministerien Sturdza und Bratianu mehrere agra- 
rische Reformgesetze erlassen, um die Bauern gegen 
Ausbeutung durch Dienst= und Pachtverträge und 
durch Juden und Schnapsschenken zu schützen: 
Schnapsschenkmonopol für die Gemeinden, Gesetze 
über Dienstverträge, Minimalarbeitslohn und 
Maximalpacht, Erleichterung des Landkaufs durch 
Gründung einer Ruralkasse, hypothekarischen 
Kredit. Unfall-, Alters-, Invaliditätsversicherung 
und ein Gesetz über Schiedsgerichte zwischen Ar- 
beitgebern und Arbeitern wurden 1910 eingebracht. 
II. Fläche und Bevölklkerung. Der Flächen- 
inhalt des Königreichs beträgt 131 353 qkm, die 
Bevölkerung 1899: 5 956 690 Seelen (45 auf 
1 qkm); davon entfallen von den drei Land- 
schaften, in die Rumänien zerfällt, auf die Moldau 
382249 qkm mit 1848 122 Einw., auf die 
Walachei, die durch den Altfluß in die Große 
(Muntenia) und Kleine Walachei (Oltenia) ge- 
teilt wird, 77 593 qkm mit 3840 760 Einw., 
und auf die Dobrudscha, die geographisch, ethno- 
graphisch und geschichtlich gegenüber den beiden 
andern Landesteilen eine Besonderheit bildet, 
15 536 qkm mit 267 808 Einw. Die Bevölke- 
rung wird für 1909 auf 6771 800 Köpfe be- 
rechnet. Gegenüber 1859, in welchem Jahr die 
drei vereinigten Fürstentümer 3 864 900 Einw. 
zählten, beträgt der Zuwachs an 75% , wozu 
außer der natürlichen Volksvermehrung (jährliche 
Geburtenzahl im Mittel 39,2 % , Todesfälle 
25,3 /% der Bevölkerung) die Zuwanderung frem- 
der Elemente beigetragen hat. Die Volksdichte ist 
am geringsten in der Dobrudscha und den an- 
grenzenden Bezirken Braila und Jalomita (unter 
20 auf 1 qkm), am größten in der Hügelregion 
und besonders auf den Terrassen längs der Fluß- 
täler (Bezirke Ilfov 90, Prahova 66, Josi 62, 
Dombovita 61). Über / der Bevölkerung 
(81,2 %) wohnt auf dem Land (2408 Land- 
gemeinden), nur 18,8 % in den 71 Stadt- 
gemeinden, die zum großen Teil ebenfalls länd- 
lichen Charakter tragen. Das männliche Geschlecht 
(100 männliche auf 97 weibliche Einw.) über- 
wiegt im ganzen Land, außer in zwei Bezirken. — 
Nach der Religion waren 5 451 787 (91,5%) 
Griechisch-Orthodoxe, 149 667Katholiken (2,5%), 
22749 Protestanten, 15.094 Lippowaner, 5787 
Armenier, 266 652 Israeliten, 44732 Moham- 
medaner, 222 Angehörige sonstiger Kulte. Die 
Katholiken leben meist in den Städten und bilden 
nur in einigen Dörfern in den Bezirken Bacau 
und Roman die Mehrheit. Die Juden sitzen haupt- 
sächlich in der Moldau, wo sie in einzelnen Städten 
und Märkten über die Hälfte der Bevölkerung 
ausmachen und vielfach Handel und Kleinhand- 
werk ganz in Händen haben; sie werden meist noch 
als Fremde betrachtet und haben nur zu geringem 
Teil das Bürgerrecht erlangt. Ethnographisch be-
	        
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