Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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dorff 15 verschiedene Theorien auf, von denen 
einzelne sich nur durch feine Nüancierungen von- 
einander unterscheiden. Die gebräuchlichste Ein- 
teilung (wir folgen Hepp) ist die in absolute und 
relative Theorien. Jene sind solche, für welche das 
Verbrechen den alleinigen Rechtsgrund der Strafe 
darstellt, ohne mit dieser irgend einen Zweck zu 
verbinden; diese dagegen solche, welche die Strafe 
gerade als Mittel zu einem Zweck auffassen und 
nur in dieser Eigenschaft ihre Rechtfertigung, unter 
Anerkennung ihrer Notwendigkeit, finden. Sodann 
faßt man die absoluten und relativen Theorien 
unter der Bezeichnung der einfachen Theorien zu- 
sammen und stellt ihnen die gemischten gegenüber, 
d. h. solche, welche entweder ausgesprochenermaßen 
oder nur stillschweigend das Prinzip einer abso- 
luten Theorie mit dem einer relativen oder mehrere 
relative Prinzipien miteinander zuvereinigen suchen. 
— Das Gemeinsame der absoluten Theo- 
rien besteht darin, daß sie die Strafe als Vergel- 
tung auffassen, weswegen man diese Theorien auch 
Vergeltungstheorien genannt hat. Für Grotius 
z. B. war die Strafe einfach das malum pas- 
sionis, quod infligitur propter malum actio- 
nis, d. h. also die Strafe ist reine Vergeltung. 
(Einschränkend muß allerdings bemerkt werden, 
daß Grotius lehrt, die weltliche Strafvergeltung 
habe im Gegensatz zur göttlichen noch nebenher 
einen gewissen Zweck im Auge, nämlich Besserung 
des Schuldigen und die Sicherung der andern vor 
ihm.) Für Kant war die Strafe eine Forderung 
des kategorischen Imperativs, d. h. ein Gebot der 
praktischen Vernunft, welches durch sich selbst 
Gültigkeit hat. Nach Hegel ist das Verbrechen die 
Regation des Rechts und die Strafe mit dialek- 
tischer Notwendigkeit die Negation dieser Negation, 
durch welche das verletzte Recht wieder hergestellt 
wird. Dem entgegen spricht Stahl sich dahin aus, 
daß das verletzte Recht nicht wieder hergestellt wer- 
den könne, denn die einmal geschehene Übertretung 
ist unwiderruflich; die Strase hat vielmehr den 
Sinn, daß sie die einfache notwendige Folge des 
Verbrechens der Gerechtigkeit wegen ist, die ver- 
langt, daß nicht der verbrecherische Wille die Ober- 
hand behält gegenüber der im Staat sich offen- 
barenden äußern Ordnung der Dinge durch Gott. 
Zu diesen absoluten Theorien gehört auch die von 
v. Bar vertretene, wonach die Strafe nichts an- 
deres ist als die sittliche Mißbilligung (Repro- 
bation) des Unrechts. Das Strafrecht beruht hier- 
nach „auf der in gewissem Umfang notwendigen 
sittlichen Mißbilligung unsittlicher, d. h. den Be- 
dingungen der Existenz und der Fortentwicklung 
der menschlichen Gesellschaft schädlicher (bzw. ge- 
fährlicher) Handlungen. Diese Mißbilligung ist 
insofern notwendig, als die Sittlichkeit überhaupt 
auf einer gewissen Solidarität des sittlichen Urteils 
aller beruht und sich sortbildet“. — Der Grund- 
gedanke der sog. relativen Strafrechtstheo- 
rien ist das nec peccetur; denn die in der Ver- 
gangenheit liegende Ubeltat „kann für sich allein 
Strafe usw. 
  
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nicht Vernunftgrund der Strafe sein, sondern es 
muß sich mit ihr, da auf Vergangenheit nicht gewirkt 
werden kann, ein in der Gegenwart liegender, oder 
da die Gegenwart im Moment der Handlung ent- 
flieht, ein für die Zukunft rechtlich notwendiger 
Zweck verbinden, nämlich die aus der Schuld fort- 
dauernde Störung für sie zu entfernen“. Dieser 
Gedanke liegt zunächst den Abschreckungstheorien 
zugrunde, die wiederum in zwei Klassen zerfallen, 
nämlich in die, welche die Abschreckung in die 
Strafvollziehung (dies ist die ältere), und die, 
welche sie in die Strafandrohung verlegt; eine 
Unterart der letzteren bildet wieder die Warnungs- 
theorie. Davon ausgehend, daß die Strafe dazu 
da ist, um die Rechtsordnung im Staat aufrecht 
zu erhalten und die bürgerliche Gesellschaft zu 
sichern, muß nach diesen Theorien die Strafe so 
eingerichtet sein, daß sie nicht bloß auf den ein- 
zelnen Verbrecher, sondern, wenn irgend möglich, 
auf die ganze Bevölkerung abschreckend wirkt. Eine 
ganz besondere Begründung erhielt die Ab- 
schreckungstheorie durch Strafandrohung durch 
Feuerbach, dessen Theorie speziell als die des pfy- 
chologischen Zwangs bezeichnet worden ist. Sie 
geht davon aus, daß alle Verbrechen ihren psycho- 
logischen Entstehungsgrund in der Sinnmlichkeit 
des Menschen haben, insofern als diese durch die 
Lust an oder aus der Handlung angetrieben wird. 
Diesem Entstehungsgrund wirkt psychologisch bei 
allen die gesetzliche Drohung mit der Strafe als 
der notwendigen Folge der Tat entgegen. Zu den 
relativen Theorien gehören ferner, und zwar von 
einigen als selbständige Gattungen, von andern 
als Unterarten der Abschreckungstheorien aufge- 
faßt, die sog. Präventions= oder Sicherungs- 
theorien. Sie sehen in der Strafe ein Mittel zur 
Abwendung einer bevorstehenden Gefahr der Ver- 
letzung staatlicher Ordnung. Die verbrecherische 
Handlungsweise eines Menschen, sofern er die freie 
Willensbestimmung hat, dient zum Beweis, daß 
es dem Handelnden an der vom Gesetz geforderten 
dauernden Stimmung gegen das Unrecht und für 
das Recht fehlt. Der ferneren Betätigung dieser 
Stimmung durch Begehung neuer Verbrechen muß 
man zuvorkommen entweder durch physischen oder 
durch psychischen Zwang. Dieser Präventions- 
zwang wird durch die Strafe ausgeübt, indem 
dadurch die Unlust vor dem Verbrechen stärker als 
jene Stimmung erregt wird. Dieser Präventions= 
zwang übt seine Wirkung sowohl auf den einzelnen 
(Spezialprävention) als auf alle (Generalpräven- 
tion). Damit wird denn der Gefahr künftiger 
Verletzung vorgebeugt. Hierher gehört sodann die 
Besserungstheorie. Sie wendet sich hauptsächlich 
gegen die Vergeltungstheorie, aber auch gegen die 
Abschreckungs- und die Präventionstheorie, insofern 
andere als der Verbrecher selbst dabei in Betracht 
kommen, diesen Theorien vorwerfend, daß sie den 
Menschen unzulässigerweise als Mittel für den 
Zweck anderer benutzten. Sie setzt den Zweck der 
Strafe in die Besserung oder Willensänderung
	        
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