Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Die Strafprozeßordnung steht auf dem letzteren 
Standpunkt, indem sie im 8 260 vorschreibt: 
„UÜber das Ergebnis der Beweisaufnahme ent- 
scheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem 
Inbegriff der Verhandlung geschöpften Uberzeu= 
gung.“ Unter Verhandlung ist Hauptverhandlung 
zu verstehen. Damit ist aber gleichzeitig eine wich- 
tige Einschränkung der freien Uberzeugungstheorie 
im weitesten Sinn festgelegt. Das nämlich, was 
der Richter aus andern Quellen weiß, sein privates 
Wissen, darf er nicht zur Beurteilung der Sach- 
lage benutzen, sondern nur das, was er aus der 
vor ihm sich abspielenden Hauptverhandlung er- 
fährt. Selbstverständlich steht aber der Richter im 
menschlichen und amtlichen Leben und kann und 
darf sich gegen allgemeines Wissen nicht ver- 
schließen. Was daher so allgemein bekannt ist, 
daß ein vernünftiger Mensch es nicht in Zweifel 
zieht, ingleichen alle Tatsachen, welche amtlich zur 
richterlichen Kenntnis und auch zur allgemeinen 
Kenntnis gekommen sind (notorische Tatsachen), 
hat auch der Richter zu verwenden; solche Tat- 
sachen bedürfen keines Beweises. Unzulässig wäre 
es also z. B., wenn der Richter sein Urteil auf in 
Strafprozeß. 
  
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eines zu vernehmenden Zeugen ersucht, so darf er 
diesem Antrag nur stattgeben, wenn Gefahr im 
Verzug ist oder die Beeidigung nach seiner An- 
sicht erforderlich ist, um eine wahrheitsgemäße 
Aussage zu erhalten über eine Tatsache, von der 
die Erhebung der öffentlichen Klage abhängig ist. 
In gewissen schleunigen Fällen, so wenn der Ver- 
dacht eines unnatürlichen Todes besteht oder der 
Leichnam eines Unbekannten gefunden wird, oder 
wenn überhaupt Gefahr im Verzug ist, muß der 
Amtsrichter statt des Staatsanwalts einspringen 
und die nötigen Untersuchungshandlungen vor- 
nehmen. Auch die Sorge, für die Entlastung des 
Beschuldigten rechtzeitig Vorkehr zu treffen, macht 
sich schon im Ermittlungsverfahren geltend, indem 
der Amtsrichter verpflichtet ist, ohne weiteres die- 
jenigen Beweise aufzunehmen, die sich bei einer 
Vernehmung des Beschuldigten vor ihm als er- 
heblich für die Entlastung oder die Freilassung 
des Beschuldigten ergeben. Bieten die Ermitt- 
lungen keinen genügenden Anlaß zur Erhebung 
der öffentlichen Klage, so stellt die Staatsanwalt- 
schaft das Verfahren ein, wobei dann das oben 
(1. gegen E.) erwähnte Beschwerdeverfahren statt- 
den Akten befindliche Urkunden stützen wollte, die haben kann. Bieten sie aber genügenden Anlaß, so 
in der Hauptverhandlung nicht verwertet worden erhebt die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage, 
sind. Anderseits gehört es zum Wesen der Über- I wobei sie eine bestimmte Person einer bestimmten 
zeugungstheorie, daß auch die Beurteilung der 
Beweiskraft der einzelnen Beweismittel (Zeugen- 
aussagen, Gutachten Sachverständiger usw.) dem 
freien Ermessen des Richters unterliegt. Das macht 
sich namentlich auch geltend, wenn die Strafbar= 
keit einer Handlung von der Beurteilung eines 
bürgerlichen Rechtsverhältnisses abhängig ist. In 
diesem Fall hat der Strafrichter nach seiner 
Überzeugung auch dieses Rechtsverhältnis zu be- 
urteilen und auch über dieses zu entscheiden nach 
den für den Beweis in Strafsachen geltenden Vor- 
schriften; er ist somit nicht gebunden durch ein 
über dieses Verhältnis etwa bereits ergangenes 
Urteil des Zivilrichters. 
  
strafbaren Handlung anschuldigen muß. Die Er- 
hebungderöffentlichen Klagegeschiehtentwederdurch 
Einreichung einer Anklageschrift bei dem Gericht 
oder durch Antrag auf gerichtliche Voruntersuchung. 
Im ersteren Fall kommt es sofort zur Ent- 
scheidung des Gerichts über die Eröffnung des 
Hauptverfahrens (s. unten); im letzteren Fall 
schiebt sich, wenn gegen den Antrag keine Bedenken 
obwalten, zunächst noch das Verfahren der gericht- 
lichen Voruntersuchung ein. Es steht der Staats- 
anwaltschaft nicht frei, ob sie jenen oder diesen 
Weg einschlagen will. In Strafsachen, welche zur 
Zuständigkeit des Reichsgerichts oder der Schwur- 
gerichte gehören, ist sie gezwungen, den Antrag 
D. Das Verfahren in erster Instanz. 1. Vor-- auf gerichtliche Voruntersuchung zu stellen, in 
verfahren, gerichtliche Voruntersuchung. Schöffengerichtssachen ist ein solcher Antrag un- 
Nach den dargelegten Prinzipien wird das straf- zulässig; nur in landgerichtlichen Strassachen kann 
gerichtliche Verfahren durch die Erhebung einer sich die Staatsanwaltschaft für das eine oder andere 
Klage bedingt. Die Vorbereitung derselben hat Vorgehen frei entschließen, wofür der Ausfall der 
die Staatsanwaltschaft selbst zu übernehmen; sie Vorermittlungen, besonders ihre Zuverlässigkeit 
leitet das „Vorbereitungs“= oder, „Ermittlungs- und ihr Umfang, ausschlaggebend sein werden. 
verfahren“ und kann zur Erforschung des Sach= Auch der Beschuldigte kann in landgerichtlichen 
verhalts von allen öffentlichen Behörden Auskunft Strafsachen Voruntersuchung verlangen, wenn die 
verlangen und Ermittlungen jeder Art, mit Aus- Staateanwaltschaft ohne eine solche Anklage er- 
schluß eidlicher Vernehmungen, entweder selbst hoben hat und er erhebliche Gründe dafür geltend 
vornehmen oder durch die Behörden und Beamten machen kann, aus denen eine Voruntersuchung 
des Polizei= und Sicherheitsdienstes vornehmen zur Vorbereitung seiner Verteidigung erforderlich 
lassen. Ihrem Ersuchen muß genügt werden. Nur erscheint. Die Vorermiktlung der Staatsanwalt- 
wenn die Vornahme einer gerichtlichen Unter= schaft muß insoweit Ergebnisse gehabt haben, daß 
suchungshandlung in Frage kommt, hat der darum der Beschuldigte und die ihm zur Last gelegte 
anzugehende Amtsrichter zu prüfen, ob die be: Tat bezeichnet werden können. Die Ablehnung 
antragte Handlung nach den Umständen des Falls der Voruntersuchung kann nur aus Rechtsgründen 
gesetzlich zulässig ist. Ist der Amtsrichter im vor- (Unzuständigkeit des Gerichts, gesetzliche Unzu- 
bereitenden Verfahren auch um die Beeidigung lässigkeit der Voruntersuchung oder überhaupt der
	        
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