Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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mannsordnung vom 29. März 1879) voraus- 
zugehen, wenn beide Teile in demselben Gemeinde- 
bezirk wohnen. Das Verfahren ist ein wirkliches 
Strafverfahren, das nur in einigen Hauptzügen 
von dem regelmäßigen abweicht, und in welchem 
der Privatkläger insoweit zuzuziehen und zu hören 
ist, als im Verfahren auf öffentliche Klage die 
Staatsanwaltschaft zuzuziehen ist. Die Privat- 
klage wird schriftlich eingereicht oder zu Protokoll 
des Gerichtschreibers erklärt. Ist sie vorschrifts- 
mäßig erhoben, so wird sie dem Beschuldigten zur 
Erklärung und der Staatsanwaltschaft zur Kennt- 
nisnahme mitgeteilt. Nach Ablauf der für die 
Erklärung gestellten Frist erläßt der Amtsrichter 
einen Eröffnungsbeschluß, und es kommt zur 
Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht, in 
der sich sowohl der Privatkläger wie der Ange- 
klagte durch einen mit schriftlicher Vollmacht ver- 
sehenen Rechtsanwalt vertreten lassen kann. Er- 
scheint der Kläger nicht, und ist er auch nicht ver- 
treten, so gilt die Privatklage als zurückgenommen; 
sie kann auch ausdrücklich zurückgenommen werden 
und erlischt durch den Tod des Privatklägers; im 
letzteren Fall kann sie jedoch, wenn es sich um Ver- 
leumdungen handelt, von den Eltern, Kindern und 
dem Ehegatten des Privatklägers fortgesetzt wer- 
den. Im Privatklageverfahren kann auch Wider- 
klage erhoben werden, wenn es sich um wechsel- 
seitige Beleidigungen und Körperverletzungen 
handelt und so auch die Bestrafung des Privat- 
klägers erlangt werden. Ergibt es sich, daß eine 
strafbare Handlung vorliegt, die nicht im Weg 
der Privatklage verfolgbar ist, z. B. eine gefähr- 
liche Körperverletzung, so wird durch Urteil das 
Verfahren eingestellt und der Staatsanwaltschaft 
Mitteilung gemacht. 
Der Privakklageberechtigte, derjenige, welcher 
die Zuerkennung einer Buße beanspruchen kann, 
und derjenige, welcher als Antragsteller auf ge- 
richtliche Entscheidung hin die Erhebung der 
öffentlichen Klage erzwungen hat, kann sich als 
Nebenkläger der öffentlichen Klage durch 
schriftliche Erklärung anschließen. Der Neben- 
kläger hat die Rechte des Privatklägers. Er nimmt 
keinen Anteil an den Erklärungen über Annahme 
oder Ablehnung der Geschworenen. Sein Nicht- 
Eescheinen in der Hauptverhandlung ist ohne 
influß. 
Weitere besondere Arten des Verfahrens er- 
geben sich dadurch, daß in bestimmten Fällen die 
Auferlegung einer Strafe erfolgen kann, ohne daß 
eine Hauptverhandlung und ein Urteil ergeht. 
Unter gewissen Voraussetzungen haben nämlich die 
Amtsrichter, die Polizeibehörden und mit Er- 
hebung der öffentlichen Abgaben und Gefälle be- 
trauten Behörden die Befugnis, Strafbescheide 
(Strafbefehle, Strafverfügungen) zu erlassen mit 
Beschränkung in Bezug auf Höhe und Art der 
Strafe. Gegen diese findet entweder Beschwerde 
an die der Behörde vorgesetzte Instanz statt oder 
Antrag auf gerichtliche Entscheidung, bei vorauf- 
Strafprozeß. 
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gegangenem amtsrichterlichen Strafbefehl Ein- 
spruch. Es kommt dann zur Hauptverhandlung 
im gewöhnlichen Verfahren. 
Endlich ist hier noch des sog. objektiven 
Strafverfahrens Erwähnung zu tun, welches 
stattfindet, soweit es sich 1) um Einziehung, Ver- 
nichtung oder Unbrauchbarmachung von Gegen- 
ständen handelt, welche nach 88 40/42 des 
St. G. B. diesen Maßnahmen unterliegen, oder 
2) um Vermögensbeschlagnahmen, die in den 
§§ 93, 140 des St.G.B. vorgesehen sind. Im 
ersteren Fall kann selbständig, ohne daß es der 
Verfolgung einer bestimmten Person bedarf, er- 
kannt werden. Das Urteil ergeht in einer Haupt- 
verhandlung, zu der Personen, die einen recht- 
lichen Anspruch an dem Gegenstand haben, soweit 
dies ausführbar ist, zu laden sind. Im letzteren 
Fall richtet sich das Verfahren im allgemeinen 
nach dem gegen Abwesende. 
E. Rechtsmittel (Beschwerde, Berufung, Revi- 
sion) und die Wiederaufnahme des Verfah- 
rens. Unter Rechtsmittel versteht die Strafprozeß= 
ordnung Rechtsbehelfe, mittels deren eine noch nicht 
rechtskräftige Entscheidung als ungerechtfertigt an- 
gefochten werden kann. Als solche Rechtsmittel kennt 
sie die Beschwerde, die Berufung und die Revision. 
Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens 
zählt nicht hierher, da er gegen ein durch rechts- 
kräftiges Urteil geschlossenes Verfahren stattfindet; 
doch gelten für ihn die für Rechtsmittel gegebenen 
allgemeinen Bestimmungen ebenfalls, und man 
bezeichnet demgemäß dieses Rechtsmittel in der 
Doktrin als außerordentliches. Welches Rechts- 
mittel zu ergreifen ist, richtet sich nach der an- 
zufechtenden Entscheidung. Gegen Beschlüsse des 
Gerichts und Verfügungen des einzelnen Richters 
(Vorsitzenden, Untersuchungsrichters, Amtsrichters, 
beauftragten, ersuchten Richters) richtet sich die 
Beschwerde, gegen Urteile Berufung und Revision. 
Die gemeinschaftlichen Bestimmungen stellen zu- 
nächst den Grundsatz auf, daß die Rechtsmittel 
der Staatsanwaltschaft und dem Beschuldigten 
gleichmäßig zustehen, daß aber die erstere auch zu- 
gunsten des letzteren von ihnen Gebrauch machen 
kann. Das hat seinen Grund in dem öfters be- 
tonten Prinzip, daß materielle Wahrheit fest- 
gestellt werden soll und demgemäß auch die Staats- 
anwaltschaft dahin zu wirken hat, daß nur der 
Schuldige der Strafe verfällt. Ein Wechsel in 
ihrer Anschauung aber darüber, wer der Schuldige 
ist, ist sehr wohl denkbar. Gegen ein freisprechen- 
des Urteil ein Rechtsmittel zu ergreifen, hat der 
Beschuldigte in der Regel kein Interesse; es ist 
ihm das aber für den Fall nicht versagt, daß seine 
strafrechtliche Schuld bejaht ist, er aber aus recht- 
lichen Gründen freigesprochen wurde. Da die 
Rechtsmittel dazu dienen sollen, eine ungerecht- 
fertigte Beschwerung zu beseitigen, so ist der 
Grundsatz anerkannt, daß eine Abänderung der 
angefochtenen Entscheidung zu ungunsten des Be- 
schuldigten (reformatio in peius) nicht eintreten
	        
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