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an; für die Feststellung hierokratischer Forde-
rungen ist es entscheidend, ob die betreffenden
Päpste das Recht, einen Fürsten abzusetzen, her-
leiteten aus den bestehenden staatsrechtlichen Ver-
hältnissen oder aber aus der grundsätzlichen kirch-
lichen Oberhoheit, aus dem Wesen der aposto-
lischen Machtvollkommenheit. Bei dem einen oder
andern Fall mag man im Zweifel sein, wie die
Sache klar liegt; bei andern aber liegen sicher
eigentliche hierokratische Anschauungen zugrunde,
deren Feststellung wir auch nicht dadurch aus dem
Wege gehen können, daß wir die betreffenden Tat-
sachen unter dem Gesichtspunkt politischer und
kirchenpolitischer Notwehr betrachten.
uin der Bulle „Regnans in coelis“ vom
25. Febr. 1570 erklärt Pius V. die Königin
Elisabeth von England, da sie der Häresie ver-
sallen, für abgesetzt und jeglicher Würde und jeg-
lichen Vorrechts für verlustig; den Ständen und
Untertanen wird unter der Strafe der Exkommu-
nikation verboten, der Königin irgendwie zu ge-
horchen (Text bei Mirbt, Quellen zur Geschichte des
Papsttums („190 1] Nr 338). An dem hierokrati-
schen Charakter dieser Sentenz kann nicht gezweifelt
werden; denn Pius V. beruft sich im Eingang
der Bulle für die Absetzungsbefugnis ausdrücklich
auf die dem Apostolischen Stuhl von Gott ge-
gebene Vollgewalt. Der Papst sei von Gott ge-
setzt zum Fürsten über alle Völker und alle König-
reiche, auf daß er ausreiße und zerstöre, aufbaue
und pflanze. Hunc unum (scil. Romanum pon-
tifü0cem) super omnes gentes et omnia regna
principem constituit, qdui evellat, destruat,
dissipet, disperdat, plantet et aedificet.
Die Sentenz Pius' V. gegen Elisabeth ent-
sprach durchaus dem, was Paul IV. in der Bulle
„Cum ex apostolatus officio" vom 15. Febr.
1559 grundsätzlich in hierokratischer Begründung
als Recht proklamierte und bestimmt hatte (die
einschlägigen Stellen der Bulle bei Mirbt a. a. O.
Nr 288). Der Papst geht davon aus, daß er als
Stellvertreter Christi die volle Herrschaft über alle
Völker und Königreiche habe und alle richten
könne, und verordnet dann folgendes: Alle Mon-
archen sind, sobald sie der Häresie oder dem
Schisma sich zuwenden, ohne daß es einer recht-
lichen Formalität bedarf, unwiderruflich abgesetzt,
jedes Herrscherrechts für immer beraubt und der
Todesstrafe verfallen (quinimmo saecularis re-
liquantur arbitrio potestatis animadversione
debita puniendi); nur wer reuig sich bekehrt,
soll in ein Kloster eingeschlossen werden und
dort zeitlebens Buße tun (in pane doloris et
aqua maestitiae). Niemand darf einem häretisch
oder schismatisch gewordenen Fürsten eine Hilfe
gewähren; der Monarch, der dies dennoch tut,
verliert sein Land zugunsten des zuerst zugreifen-
den, falls dieser nur dem Apostolischen Stuhl ge-
horsam ist.
Hat Paul IV. in dieser Bulle die päpstliche
Absetzungsbefugnis zurückgeführt auf die von
Theokratie.
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Christus der Kirche gegebene apostolische Voll-
gewalt — und nach den Eingangsworten will
uns das nicht zweifelhaft erscheinen —, dann hat
der Papst sich allerdings geirrt, und zwar geirrt
in einer amtlichen Verlautbarung. Wie die An-
schauungen Pauls IV. sich historisch bilden konn-
ten, ist eine Frage für sich; dogmatisch aber liegen
gar keine Bedenken gegen eine Kritik der Verlaut-
barung Pauls IV. vor. Mit der Unfehlbarkeit
hat dieser Irrtum Pauls IV. nichts zu tun; der
Papst hat gar keine lehramtliche Entscheidung
über den Inhalt seiner apostolischen Vollgewalt
geben wollen, und kein Dogmatiker hat, wie Kar-
dinal Hergenröther mit Recht hervorhebt, in der
Bulle je den Charakter einer lehramtlichen Ent-
scheidung entdeckt (Hergenröther, Katholische
Kirche und christlicher Staat in ihrer geschichtlichen
Entwicklung (1872] 768). Erst recht hat man
auch auf katholischem Boden die Freiheit, an
dem Strafmaß dieser Gesetze Kritik zu üben.
Ganz offen gesteht Kardinal Hergenröther, „man
möge Grund haben, die Bulle Pauls V. für viel
zu streng, unzweckmäßig, ja exorbitant in ihren
Strafen zu erklären“ (Hergenröther a. a. O.766).
V. Kafsation weltlicher Gesetze. Als hiero-
kratisch zu charakterisieren wäre der Anspruch,
weltliche Gesetze, welche dem kirchlichen Interesse
widerstreiten, für null und nichtig zu erklären. Man
kann darüber streiten, ob die verhältnismäßig we-
nigen Fälle, die gewöhnlich hier angeführt werden,
auch wirklich alle als hierokratische Kassations-
sentenzen aufzufassen sind.
Am 15. Aug. 1215 hat Innozenz III. die
englische Magna Charta in aller Form
für null und nichtig erklärt (tam chartam qguam
obligationes seu cautiones, qunecumque pro
ipsa sunt factae, irritantes penitus aut cas-
santes, ut nullo umquam tempore aliqusm
habeant firmitatem. Mirbt a. a. O. Nr 226).
Die Frage, ob wirklich schon die ursprüngliche
Magna Charta Johanns als die Grundlage der
englischen Freiheiten aufzufassen ist, scheidet für
die Untersuchung des hierokratischen Charakters
der Kassation aus. Sie ist bloß von Bedeutung
für die Beurteilung des Vorwurfs, der Papst habe
im Gegensatz zum einheimischen hohen Klerus
sich als Feind der englischen Freiheiten erwiesen.
(Zumgeschichtlichen Verständnis derenglischen Ver-
fassung vgl. Bornhak, Die historischen Grundlagen
der englischen Parlamentsverfassung, in Inter-
nationale Wochenschrift (1910] Nr 31, Sp. 1181
bis 1144.) Gegen die Annahme des hierokrati-
schen Charakters der Kassationsbulle Inno-
zenz' III. kann man darauf hinweisen, daß der
Papst zu König Johann im Verhältnis des Lehns-
herrn stand und daß der Papst durch die Kassation
eben sich seines Lehnsmannes gegen die rebellischen
Magnaten annahm. Wie Ranke hervorhebt, war
ja Innozenz von Anfsang seiner Lehnsherrschaft
an entschlossen, „seinen Lehnsmann nicht allein
gegen die dußern Angriffe, sondern auch gegen