Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

505 
nungsgesetz der Lissaboner Revolutionsmänner hat 
derselbe Papst in seiner Enzyklika vom 24. Mai 
1911 den schärfsten Protest erhoben. Wo immer 
aber innerhalb der gemeinschaftlichen Interessen- 
sphäre ein Streit zwischen beiden Gewalten aus- 
zubrechen droht, da bietet die Möglichkeit des 
Abschlusses eines Konkordats jederzeit einen 
gangbaren Weg zur Verständigung. Auf dieses 
wichtige Auskunftsmittel weist deshalb auch Papst 
Leo XIII. die Staatslenker hin, wenn er in 
seinem oben genannten Rundschreiben vom 1. Nov. 
1885 hinzufügt (Denzinger-Bannwart a. a. O. 
en. 1866): Incidunt autem quandoque tem- 
pora, cum alius quoque concordiae modus 
ad tranquillam libertatem valet, nimirum si 
qui principes rerum publicarum et Pontifex 
Maximus de re aliqua separata in idem pla- 
citum consenserint. Die guten Dienste und 
Handreichungen, welche der Staat der Kirche 
leistet, kommen ihm selbst wieder zu gut, weil har- 
monisches Einvernehmen Ruhe, Zufriedenheit und 
Gehorsamswilligkeit im Staatskörper schafft. Das 
geflügelte Wort vom „ewigen Streit zwischen im- 
perium und sacerdotium“ beweist nur die Un- 
vollkommenheit menschlicher Einrichtungen, mit 
nichten aber die Überflüssigkeit oder gar Unmög- 
lichkeit der Eintracht. Jeder gewaltsame Bruch 
zwischen Staat und Kirche kann nur in den schwer- 
sten Gewissensnöten der katholischen Staatsbürger 
endigen. Denn in die Mitte zwischen beide Ge- 
walten gestellt und mit Pflichten belastet gegen 
beide, gerät der Untertan in die peinliche Lage, 
entweder der einen oder der andern den Gehorsam 
aufzukündigen und so entweder zum Rebellen gegen 
den Staat oder zum Abtrünnigen von der Kirche 
zu werden. Und wenn auch der überzeugungstreue 
Christ von den Aposteln die Direktive hat: „Man 
muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“ — 
im Grund die ethische und staatsrechtliche Theorie 
von der Erlaubtheit des „passiven Widerstands“ —, 
so ist doch für viele die Versuchung zum Ab- 
fall vom Glauben größer als der Gegenzug an- 
geborner oder selbsterworbener Glaubensstärke. Da- 
bei soll nicht geleugnet werden, daß bei besonders 
heftigen Zwistigkeiten die schiedliche und friedliche 
Trennung von Staat und Kirche für beide Teile 
den relativ besseren Zustand, d. h. das „kleinere 
Übel“, darstellen kann. Aber doch „nur für ab- 
norme Verhältnisse .. wenn nämlich der Staat 
das richtige Verhältnis zur Kirche verkennt oder 
mißachtet. Unnatur bleibt diese Trennung immer- 
hin auch in diesen Fällen, wie es Unnatur ist, daß 
die Seele vom Körper getrennt, die Frau vom 
Mann geschieden wird, wenn schon ein krankhaftes 
Mißverhältnis die Trennung zeitweilig wünschens- 
wert erscheinen läßt“ (C. Gutberlet, Lehrbuch der 
Apologetik III /[18941 24). Manche Staatsrechts- 
lehrer sind gewohnt, die einen aus Abneigung 
gegen Religion, die andern im Interesse der Re- 
ligion, als praktischen Beweis für die Zuträglich- 
keit der Trennung das langbewährte Beispiel der 
  
Toleranz. 506 
Vereinigten Staaten, wo beide Teile bei getrennter 
Ehe sich ausnehmend wohl zu fühlen scheinen, an- 
zuführen, zumal Nordamerika auch in den neu- 
erworbenen Kolonien Kuba, Puerto Nico und Phi- 
lippinen die von der Staatsverfassung geforderte 
Scheidung eingeführt hat. Allein so rückhaltlos 
anerkannt werden soll, daß beide Teile nicht schlecht 
dabei fahren, so kann man doch unmöglich von 
einem „Ideal“ sprechen, wenn man hört, daß der 
Freistaat „die Kirche genau so behandelt wie jeden 
Schachklub und jede Tanzgesellschaft; die Priester 
sind vor dem Richter nichts anderes als beliebige 
Direktoren einer Eisenbahn, ihre Kirchen sind Ver- 
sammlungssäle wie andere auch“ (v. Treitschke 
a. a. O. 338 f). Über die Wirkung des Systems 
s. Schaff, Church and State in the United 
States or the Amerrican idea of religious Li- 
berty and its practical Effects (Neuyork 1888). 
Dazu kommt, daß der nordamerikanische Freistaat 
Eigentümlichkeiten so besonderer Art aufweist, daß 
er mit andern Staaten kaum verglichen werden 
kann. Obschon dort ein rücksichtsloser Konkurrenz- 
kampf sich widerstreitender Interessen herrscht, so 
trägt dennoch bei der Noblesse des amerikanischen 
Volkscharakters das Schlimmere nicht leicht den 
Sieg über das Bessere davon, sondern trotz aller 
Korruption im Erwerbsleben und in der Politik 
erzeugen die egoistischen Sonderbestrebungen zuletzt 
eine Resultante, die genau besehen dem Gemein- 
wesen zugute kommt und die Staatsmaschine in 
Gang erhält. Was die einzelnen mit selbstsüch- 
tigen Absichten und Mitteln für sich erkämpfen, 
das fügt sich als ungesuchtes Glied ins große 
Triebrad ein und wird gezwungen, dem höheren 
Ganzen zu dienen (s. Cl. Jannet u. W. Kämpfe, 
Die Vereinigten Staaten von Amerika in der 
Gegenwart. Sitten, Institutionen und Ideen seit 
dem Sezessionskrieg (1893|). So ist es auch mit 
dem Wettbewerb der Religionen, Kirchen und 
Sekten, die dort wie Pilze aus der Erde auf- 
schießen. Ihr Einfluß ist gerade stark genug, um 
das Staatswesen selbst mit einem Flitter von 
Religion zu umkleiden, wenn zwar die konfessions- 
lose Staatsschule — die Achillesferse der Union — 
nach und nach ein Geschlecht von Indifferentisten 
und Ungläubigen zu züchten droht. Gleichwohl 
würde man den Durchschnitts-Amerikaner tief be- 
leidigen, wenn man seine Heimat als unchristlich 
oder gar religionslos verschreien wollte. Denn 
der Freistaat beansprucht nicht bloß selbst Religion 
zu besitzen, sondern sogar am Christentum (z. B. 
Sonntagsheiligung, Monogamie, Danksagungs= 
tag) festzuhalten. Noch heute gilt, was einst F. 
Walter (a. a. O. 495) schrieb: „Selbst in den 
Vereinigten Staaten von Amerika, worauf man 
sich gern beruft, wird die Religion nicht für den 
Staat gleichgültig angesehen, sondern als ergän- 
zend vorausgesetzt.“ 
2. Obschon der katholische Staat ver- 
fassungsmäßig nur die katholische Religion als die 
allein wahre anerkennt, so kann er dennoch mit
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.