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übertragen. In Württemberg werden die
Schullasten mit Unterstützung des Staats von der
Gemeinde getragen. Das gleiche geschieht in
Baden, wo zudem durch das Gesetz vom 7. Juli
1910 der Gedanke konsequent durchgeführt wurde,
daß die Gemeinde als solche und nicht als Armen-
verband für die Unterweisung, gegebenenfalls so-
gar für die private, solcher Kinder zu sorgen hat,
deren Eltern unfähig sind, diese Pflicht zu er-
füllen. — In Osterreich werden die Schullasten
auf dem Land durch eine besondere Schulsteuer,
in den Städten von der Gemeinde aufgebracht.
Es ist unnatürlich, wenn die Kinder vom 6. bis
zum 14. Lebensjahr von der Schule so in Anspruch
genommen werden, daß die körperliche Arbeit
für dieselben ganz oder fast ganz zurücktritt. Bei
den meisten Kindern vom 14. Lebensjahr an tritt
sehr oft plötzlich und unvermittelt an die Stelle
der fast ausschließlichen geistigen Tätigkeit fast
ebenso ausschließlich die körperliche. Das Turnen,
welches die körperliche Entwicklung während der
Schulzeit fördern soll, ist im großen und ganzen
doch nur ein schwacher Ersatz für die Arbeit im
Haus und auf dem Feld der Eltern. Wo die
Verhältnisse es noch gestatten, daß die Kinder an
dieser Arbeit teilnehmen, sollte die Schule es nicht
durch zu viele häusliche Arbeiten, Verkürzung und
verkehrte Festsetzung der Ferien usw. verhindern.
Es wird dann Zeit und Gelegenheit genug vor-
handen sein, daß die Kinder den Eltern in Haus
und Feld aushelfen und dadurch das durch ein-
seitige Geistesarbeit leicht gestörte Gleichgewicht
wiederherstellen können. In den großen Städten
und den Industriebezirken sowie in den Bezirken
der Latifundien, wo die meisten Menschen von
Unterrichtswesen.
der Scholle losgelöst sind, ist es allerdings anders.
Da wirkt der Schulzwang einer übermäßigen)
körperlichen Arbeit entgegen. Wenn England den
Schulzwang gehabt hätte, hätten die Verhältnisse
der Kinderarbeit in der englischen Industrie nicht
so entsetzlich werden können, wie sie besonders in
der ersten Hälfte des 19. Jahrh. gewesen sind.
Eine segensreiche Neuerung der jüngsten Zeit
bilden die sog. Hilfsschulen für imbezille Kin-
der. Die erste dieser Anstalten in Preußen wurde
1879 von Otto Boodstein in Elberfeld gegründet.
Durch die Rührigkeit des seit 1898 bestehenden
„Verbands der Hilfsschulen Deutschlands“ (Or-
gan: „Zeitschrift für Kinderforschung“) haben
sich diese Schulen im In= und Ausland in den
letzten Jahren sehr vermehrt. In Deutschland
gab es Anfang 1910 314 Hilfsschulen mit 801
gemischten und 120 nach Geschlechtern getrennten
Klassen, die von 20 151 Kindern besucht wurden.
In den Hilfsschulen dürfen in einer Klasse nur
15/20 Schüler sein, die von speziell vorgebildeten
Lehrkräften mit stark reduziertem Stoffplan nach
einer auf möglichste Anschauung gerichteten Me-
thode unterrichtet werden. Für die Hilfsschulen
Lelten die gleichen Verordnungen (Schulzwang
usw.) wie für die Volksschulen, was in einigen
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deutschen Schulordnungen (z. B. in Bayern und
Sachsen) ausdrücklich bemerkt und durch den
Obersten Verwaltungsgerichtshof entschieden ist.
In die Hilfsschulen werden in Städten von min-
destens 15.000 bis 20 000 Einwohnern diejenigen
Kinder aufgenommen, die nach dem Gutachten
einer Kommission (Hilfsschullehrer, Schulinspektor,
Arzt) zwei Jahre hindurch erfolglos eine Normal-
schule besucht haben. — Eine gerechte Gegen-
leistung zu diesen Anstalten bilden Sonderkurse und
Förderklassen für hervorragend begabte Schüler,
die z. B. in Mannheim seit 1909 innerhalb der
normalen Schulzeit in besondern Volksschulklassen
französischen Sprachunterricht erhalten. Daß mit
dieser Sonderung der Schule ein Dienst erwiesen
wird, liegt auf der Hand. Und so sieht denn auch
das badische Schulgesetz vom 7. Juli 1910 die
Einrichtung eines solchen Sonderunterrichts be-
sonders vor.
Wachsende Sorgfalt wird auch den aus der
Volksschule entlassenen Kindern zugewendet. Der
Ausfüllung der Lücken zwischen Schulbank und
Kaserne dienen die Fortbildungsschulen,
denen das Staatslexikon ihrer Bedeutung wegen
einen eignen Artikel gewidmet hat (vgl. auch Kauf-
männisches Unterrichtswesen).
Das weitverzweigte technische Unterrichts-
wesen ist eine Errungenschaft des 19. Jahrh.,
des Jahrhunderts der Technik. Der mit der Er-
findung und Verbreitung der Maschinen in engstem
Zusammenhang stehende Ausschwung der Industrie
und Technik rief das Bedürsnis wach, den in diesen
Berufen tätigen Arbeitern und Leitern neben der
erforderlichen Allgemeinbildung noch eine beson-
dere berufliche Ausbildung zu gewähren, die ihre
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu heben geeignet
war. Nach den Aufnahmebedingungen kann man
niedere, mittlere und höhere technische Schulen
jmunterscheiden, doch ist eine scharfe Abgrenzung der
einzelnen Schulgattungen hier weit weniger vor-
handen als bei den öffentlichen Volks= und gelehrten
Schulen. Von einer einheitlichen Organisation
nahm man um so eher Abstand, als die gewerb-
lichen Unterrichtsanstalten meist lokalen Bedürf-
nissen angepaßt sind und in ihrer freien natürlichen
Entwicklung durch beengende Vorschriften leicht
gehemmt werden könnten.
In Preußen wurde etwa erst seit 1875 dem
niederen und mittleren technischen Schulwesen eine
erhöhte Aufmerksamkeit zugewendet, nachdem meh-
rere deutsche Mittelstaaten bereits mit großem
Eiser auf diesem neuen Gebiet des Bildungswesens
vorangegangen waren. Das Versäumte wurde
aber seitdem gründlich nachgeholt, so daß die
technischen Unterrichtsanstalten in den deutschen
Bundesstaaten sich gegenwärtig einer hohen Blüte
erfreuen. In allen diesen Schulen, namentlich
auch den gewerblichen Fortbildungsschulen, gehört
auch das Zeichnen zu den Unterrichtsgegenständen,
wobei auf die praktische Verwendbarkeit des Ge-
lernten im Beruf der Schüler enischeidender Wert