Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Handlungen geschehen kann, welche nur auf Grund 
der Anerkennung des Staats bzw. des Herrschers 
zu erfolgen pflegen, so dürfen sie Handlungen des 
aus dem Besitz der Staatsgewalt verdrängten 
Herrschers nicht mehr als Regierungshandlungen 
für den Staat anerkennen, also diejenigen Per- 
sonen, welche von ihm an sie gesandt werden, 
nicht mehr als Gesandte im Sinn des Völker- 
rechts behandeln, auch nicht mehr bei ihm Ge- 
sandte beglaubigen. Erkennen sie den neuen Zu- 
stand nicht an, so ist die Zuerkennung der diplo- 
matischen Vertretung dem abgesetzten Fürsten 
gegenüber die Folge. 
Daß der seiner Herrschaft beraubte Herrscher 
die ihm entrissene Macht wieder zurückzugewinnen 
suchen und hierzu sich auch der Hilfe anderer Mächte 
bedienen kann, ist an sich klar, da er hierdurch nur 
Gewalt gegen Gewalt setzt und der Usurpator nicht 
mehr Beachtung seiner Herrschaft fordern kann, 
als er selbst dem rechtmäßigen Herrscher gegenüber, 
dessen Recht ja an sich nicht erloschen ist, gezeigt 
hat; ebenso selbstverständlich ist sein Recht, gegen 
die Neureglung der Dinge zu protestieren; bleibt 
es bei dem Protest, so ergeben sich hieraus aller- 
dings keinerlei rechtliche Folgen. 
Verzichtet der vertriebene Herrscher bzw. seine 
Nachkommen auf die Herrschaft zugunsten des 
Usurpators, was ausdrücklich oder stillschweigend 
Batikan — Venezuela. 
  
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durch anerkennende Handlungen erfolgen kann, 
z. B. durch Anbahnung völkerrechtlicher Be- 
ziehungen zwischen dem Staat und dem neuen 
Staat, der sich durch Loslösung gebildet hat, so 
verwandelt sich dessen rechtswidriger Erwerb der 
Herrschaft in einen gesetzmäßigen Erwerb; gelingt 
es dagegen dem rechtmäßigen Fürsten, den Usur- 
pator wieder zu verdrängen, so fallen damit alle 
mit der Zwischenherrschaft als solcher in untrenn- 
barem Zusammenhang stehenden Regierungsakte 
von selbst fort, im übrigen sind die Handlungen 
der Zwischenregierung in Gesetz und Verwaltung 
von dem neu eintretenden Herrscher anzuerkennen, 
können aber auf verfassungsmäßigem Weg wieder 
beseitigt oder abgeändert werden. 
Ein besonderer Fall der Usurpation ist die 
Veränderung der Staatsform (Umgestaltung der 
Monarchie in eine Republik oder umgekehrt). An 
sich wird hierdurch in den völkerrechtlichen Be- 
ziehungen des Staats nichts geändert; denn der 
souveräne Staat gibt sich die Verfassung, welche 
er selbst für gut findet. Daher besteht hier im all- 
gemeinen auch kein Recht des Eingreifens anderer 
Staaten; vielmehr haben die Grundsätze der 
völkerrechtlichen Bedeutung einer Usurpation auch 
hier uneingeschränkt Anwendung zu finden (val. 
noch d. Art. Legitimität). - 
[Menzinger, rev. Coermann.) 
B. 
Vatikan s. Kurie. 
Venezuela. I. Geschichte. Venezuela ge- 
hörte 1528/46 den Augsburger Welsern als spa- 
nisches Lehen; fortan wurde es vom Vizekönig 
von Peru regiert. 1739 dem neuen Vizekönigreich 
Neugranada zugeteilt, 1776 ein eignes General- 
kapitanat. Die Missionierung besorgten Domini- 
kaner, Kapuziner, Augustiner und Jesuiten, das 
erste Bistum war Caracas (1583). Die Spanier 
beuteten die Mineralschätze aus, vernachlässigten 
aber sonst das Land; die Erbitterung über die Be- 
schränkung des Handels (vgl. d. Art. Peru) führte 
schon im 18. Jahrh. zu Aufständen. Am 19. April 
1810 begann in Caracas die Erhebung Süd- 
amerikas, und am 5. Juli 1811 rief hier der 
Kongreß die Republik aus. Doch erhielt Vene- 
zuela seine Freiheit erst durch die Siege Bolivars 
„des Befreiers“ und Paez' (1820/21), und 
Bolivar vereinigte es 1819 mit Neugranada 
(Colombia und Ecuador) zu einer Republik Co- 
lombia. Nach Bolivars Tod 1830 trennte sich 
Venezuela unter Paez von Colombia und bildete 
eine eigne Republik, die im Frieden von Madrid 
30. März 1845 von Spanien anerkannt wurde 
und in den Verträgen mit Brasilien 1859 und 
18883, Colombia 1891 und 1908 und England 
1899 ihre definitiven Grenzen erhielt. Seit 
  
Bolivar hatte der Staat zwölf Verfassungen, eine 
Unzahl von Meutereien, Revolutionen, Pronun- 
ciamentos und Bürgerkriegen; ein Element der 
Unruhe ist besonders die Armee, da die Generäle 
nach den höchsten Amtern und der Herrschaft über 
die Staatskasse trachten. 1846/70 währte der 
Kampf zwischen den Föderalisten (Liberalen) und 
Unionisten, der durch die Bundesstaatsverfassung 
vom 22. April 1864 zugunsten der ersteren ent- 
schieden wurde; während dieses Kampfes wurde 
1854 die Negersklaverei abgeschafft. An der Spitze 
der Föderalisten riß 1870 Guzman Blanco die 
Regierung an sich, und in den beiden nächsten 
Jahrzehnten, während deren er oder seine Krea- 
turen regierten, erfreute sich das Land relativer 
Ordnung und Prosperität; 1873/77 säkularisierte 
er die Klostergüter. Als Präsident Palacio 1890 
sein Amt über die gesetzliche Zeit hinaus zu be- 
haupten suchte, begann eine neue Periode von 
Revolutionen; von den verschiedenen Prätendenten 
siegte schließlich 1899 Cipriano Castro, ein ver- 
schlagener und gewalttätiger Mestize, von Beruf 
bald Mauleselhändler bald Bandenführer. Er 
regierte ohne Rücksicht auf Kongreß und Justiz, 
gab 1904 eine neue Verfassung und rief durch 
Willkürakte gegen fremde Staatsangehörige und 
Konzessionsgesellschaften und Beleidigung von Ge-
	        
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