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ungeheure Schuld kontrahiert hatten, seitdem aber
in der Tilgung derselben schon so weit vorgeschrit-
ten sind, daß sie in nicht ferner Zeit gänzlich ver-
schwunden sein kann. Leider sind die Verhältnisse
in Europa nicht derart, daß dieses Beispiel nach-
geahmt werden könnte. Seine Ausführbarkeit in
Nordamerika beruht nicht nur auf der Anspan-
nung der bis dahin nur wenig in Anspruch ge-
nommenen Steuerkraft des Volks, sondern wesent-
lich auf der Möglichkeit, nach glücklicher Beendi-
gung des Kriegs den Militäraufwand nach einem
ganz geringen Friedensstand zu bemessen. In
Europa dagegen folgte auf die letzten Kriege ein
Friede in Waffen, und Militär= und Marineetats
verschlingen fortwährend so große Summen, daß
der Steuerdruck zu empfindlich werden würde,
wenn man auch zu rascher Schuldentilgung viel
verwenden wollte.
Übrigens kann das Anwachsen der Staats
schulden, wenn die Summen auch nicht zu Aus-
gaben verwendet wurden, die durch finanzielle
Wirkung ein die Schuld kompensierendes Aktivum
geschaffen haben, doch in sonstiger Zunahme der
Einnahmequellen des Staats, vor allem in dem
Steigen des Wohlstands und damit der Leistungs-
fähigkeit des Volks, ein ausgleichendes Gegen-
gewicht finden. Die Belastung durch Vermehrung
der Staatsschuld wird nicht schwerer, wenn die
Einnahmequellen des Staats sich zugleich ent-
sprechend vermehren. Daraus erklärt sich, daß
heutzutage in wirtschaftlich vorgeschrittenen Län-
dern Staatsschuldenlasten unschwer ertragen wer-
den, die man in früherer Zeit für unerschwinglich
gehalten hätte. Auch jede Verbesserung des Systems
der Besteuerung trägt dazu bei, daß die Schulden-
last des Staats leichter getragen werden kann.
Sie dient auch zur Hebung des Staatskredits.
Die Höhe der wirklichen Staatseinnahmen aus
der Besteuerung und ihr Verhältnis zu dem Geld-
bedarf für die Staatsschuld ist aber keineswegs
maßgebend für die Beurteilung der Frage, ob die
Staatsschuld relativ hoch oder niedrig sei. Denn
die gleiche Quote der Steuereinnahme, welche die
Verzinsung der Staatsschuld erfordert, belastet
schwerer oder leichter, je nachdem der Druck der
Besteuerung größer oder geringer ist, und je mehr
aus der Quelle der Steuern, dem Volkseinkommen,
bereits geschöpft wird, sei es auch in der ratio-
nellsten Weise, um so schwieriger ist es, sie für
neuen Bedarf noch stärker in Anspruch zu nehmen.
Eine Veränderung der effektiven Staatsschulden-
last kann auch ohne Zutun des Staats dadurch
eintreten, daß der Wert des Geldes und damit
der Geldforderungen steigt oder fällt. Solche
Veränderung, und zwar eine den Staaten zum
Vorteil und ihren Gläubigern zum Nachteil ge-
reichende Verminderung, hat wieder in neuerer
Zeit in nicht geringem Maß für alle älteren
Staatsschulden stattgefunden, da in den letzten
Jahrzehnten der Wert des Geldes, besonders des
Silbergeldes, ein bedeutendes Sinken erfahren hat.
Staatsschulden.
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Widerrechtlich kann sich der Staat seinen Schuld-
verbindlichkeiten oder einem Teil derselben ent-
ziehen, indem er nicht erfüllt, was er seinen Gläu-
bigern zugesagt hat. Nach Analogie der Bankrott-
erklärung einer Privatperson bezeichnet man dies
als einen Staatsbankrott, obgleich die recht-
lichen Folgen eines Privatbankrotts dabei nicht
eintreten, da von einem Konkursverfahren gegen
den Staat nicht die Rede sein kann und die Gläu-
biger überhaupt auf gerichtlichem Weg gegen ihn
nur mit seiner Zulassung vorschreiten können.
Daß ein Staat sich seiner Schuldverpflichtungen
gänzlich entschlage, wird kaum anders als bei völ-
liger Zerrüttung des Staatswesens vorkommen.
Oft genug aber haben unrechtmäßige Verkürzungen
der Gläubiger in höherem oder minderem Grad
unter den verschiedensten Formen stattgefunden,
wie durch Zahlung in verschlechterter Münze oder
entwertetem Papiergeld oder in neuen Schuld-
scheinen statt in Bargeld, durch Unterlassung der
versprochenen Kapitalrückzahlungen, durch zeit-
weise Einstellung der Zinszahlung, durch eigen-
mächtige Umwandlung der Schuldbedingungen,
Herabsetzung des Schuldkapitals oder des Zins-
fußes u. dgl. m. Die größere Sicherheit gegen
solche Verkürzungen der Gläubiger wird immer in
solchen Ländern bestehen, in welchen die Schuld-
titel des Staats in ausgedehnten Kreisen der
eignen Bürger verbreitet sind, die unter dem
Wortbruch des Staats zu leiden haben würden,
während es leichter dazu kommen kann, daß ein
Staat bei finanziellen Schwierigkeiten sich durch
Nichterfüllung seiner Schuldverbindlichkeiten zu
helfen sucht, wenn der Schaden hauptsächlich Aus-
länder trifft. Jede Verletzung dieser Verbindlich-
keiten erschüttert aber den Kredit des Staats und
schwächt dadurch seine Kraft und sein Ansehen.
Eine Regierung, die dazu schreitet, ohne durch
dringende Not gezwungen zu sein, begeht daher
nicht nur eine gewissenlose Handlung zum Schaden
der Gläubiger, sondern fügt auch den allgemeinen
Interessen des Staats einen Nachteil zu, der viel
schwerer wiegen kann als der auf Kosten der
Gläubiger erlangte Vorteil. Anderseits zeigt die
Erfahrung, daß nach einem durch politische Kata-
strophen herbeigeführten Staatsbankrott der tief
gesunkene Kredit des Staats sich doch wieder
verhältnismäßig rasch zu heben vermag, wenn nur
die staatlichen Zustände sich so zum Besseren ge-
staltet haben, daß das Vertrauen auf den Willen
und die Fähigkeit zu künftiger gewissenhafter Ein-
haltung übernommener Verpflichtungen wieder er-
weckt wird.
Literatur. Nebenius, Der öffentl. Kredit.
2. Ausg. (1829); ders., Üüber Herabsetzung der Zin-
sen der öffentl. Schulden (1837); Baumstark,
Staatswissenschaftliche Versuche über Staatskredit
(1833); Dietzel, System der Staatsanleihen (1855).
Aufsätze in der Tübinger Zeitschrift für die Staats-
wissenschaften: v. Nasse, Steuern u. Staatsanleihen
(1865); v. Schäffle, Zur Theorie der Deckung des
Staatsbedarfs (1883 u. 1884); Sattler, Das