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bezirk sich über ein großes Staatsgebiet erstreckt,
in dem die Verhältnisse oft völlig verschiedenartig
sind. Ganz abgesehen von andern Bedenken dürften
sich beispielsweise die Wähler unter Umständen
doch schwer dazu verstehen, Kandidaten lediglich
wegen ihrer Parteizugehörigkeit zu wählen, son-
dern hierbei spielen gar oft auch die Person des
Kandidaten, die Verhältnisse des engeren Bezirks
usw. eine große Rolle. Jedenfalls dürfte die Frage
der Anwendung des Proportionalwahlsystems auf
die parlamentarischen Wahlen größerer Staats-
gebiete noch nicht hinreichend geklärt sein, um ein
definitives Urteil darüber zu sprechen.
Vereinzelt wird endlich auch jetzt noch die For-
derung erhoben, die Wahlen nach Ständen
und Berufsklassen vorzunehmen. Einmal
dürfte es aber schon ganz unmöglich sein, unsere
heutige Gesellschafts= und Wirtschaftsordnung in
eine derartige ständische Organisation einzuglie-
dern. Anderseits aber würden Vertreter, die aus
solchen Wahlen hervorgingen, im Parlament nur
sehr einseitige Interessenpolitik treiben und auch
rein politische Fragen, die von wirtschaftlichen und
sozialen Fragen weit abseits liegen, von ihrem
beschränkten Klassenstandpunkt aus beurteilen. Nur
Abgeordnete, die aus allgemeinen Wahlen hervor-
gehen, vermögen sich über einseitige Klasseninter-
essen zu erheben und alle Fragen mit Rücksicht auf
das Gesamtwohl von einem höheren und freieren
Standpunkt aus zu beurteilen.
Allenthalben ist es üblich, Wählerlisten
aufzustellen, d. h. Listen, in denen alle diejenigen
verzeichnet sind, welche jeweils wahlberechtigt sind.
In der Regel pflegen sie nach den Orten einge-
richtet zu sein, wo der einzelne wahlberechtigt ist.
Bei abgestuftem Wahlrecht enthalten sie regel-
mäßig auch die diesbezüglichen Angaben. Diese
Listen werden vor den Wahlen oder in bestimmten
Zwischenräumen zur öffentlichen Einsichtnahme
ausgelegt, um Einsprüche und Ergänzungen zu
ermöglichen.
III. Die Geschichte des Wahlrechts beginnt
mit der Geburt des konstitutionellen Staatswesens.
Allerdings hatten sich schon in früheren Zeiten
bevorrechtigte Stände in den sog. Landständen
eine Repräsentation geschaffen. Es war dies aber
in keiner Weise eine Vertretung des Volks. Je
eher und je härter dieses politische und soziale
Monopol der privilegierten Stände von dem
übrigen Volk oder von Teilen desselben empfun-
den wurde, um so früher und heißer nahm man
den Kampf dagegen auf, und zwar um so mehr,
als dieses Parlament der Stände schon gegen
Ende des Mittelalters in England teilweise aus
Wahlen hervorging und nicht mehr bloß über
Landesbeschwerden und Steuerbewilligungen zu
beraten hatte, sondern auch immer mehr eine Teil-
nahme an der Gesetzgebung erlangte. England ist
in diesem Jahrhunderte währenden Verfassungs-
kampf auch jenes klassische Land, wo zuerst die
Forderung des allgemeinen Stimmrechts erhoben
Wahlrecht.
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wurde. Bei den politischen Bewegungen inder ersten
Hälfte des 17. Jahrh. machten sich unter anderem
auch Bestrebungen geltend, welche auf eine völlige
Umgestaltung des Wahlrechts hinausliefen. Als
am 29. Okt. 1647 der erste Entwurf des agree-
ment of the people vor dem council of the
army, einer aus höheren Offizieren und einer
Anzahl von Subalternoffizieren und Gemeinen
bestehenden Körperschaft, zur Beratung kam, be-
gründete Oberst Rainborow die Forderung des
allgemeinen Stimmrechts damit, daß jeder, der
unter einer Regierung lebe, sich derselben auch
selbst unterworfen haben müsse. Selbst der ärmste
Mann in England sei nicht an seine Regierung
gebunden, wenn er nicht eine Stimme gehabt
hätte, um sich unter sie zu stellen. Einen Grund
dafür, daß ein Lord 20 Bürger, ein Gentleman
nur 2 und ein armer Mann gar keinen wähle,
gäbe es nicht, sondern alle diese Beschränkungen
des Wahlrechts verstießen wider das göttliche und
das natürliche Recht. Das ganze Volk sei der
Träger des Gesetzes, deshalb könnten nicht einzelne
Personen bei der Gesetzgebung ausgeschlossen wer-
den — dieselbe Begründung für das allgemeine
Wahlrecht also, mit der man es beinahe 150 Jahre
später in der französischen Nationalversammlung
befürwortete. Tatsächlich enthielt das agreement
of the people in seiner endgültigen Gestalt vom
15. Jan. 1649 Bestimmungen, die das allgemeine
Wahlrecht nahezu verwirklichten. Durch die fol-
genden innern politischen Wirren hat dasselbe je-
doch keine praktische Verwirklichung gefunden. Die
Anschauungen von der natürlichen Gleichheit und
Gleichberechtigung aller Menschen und dem dar-
aus sich ergebenden allgemeinen Stimmrecht er-
starben nun nicht mehr, sondern gewannen be-
sonders später unter dem Einfluß der Schriften
Lockes und Rousseaus immer mehr an Boden. Die
französische Revolution brachte mit einem Schlag
Frankreich das allgemeine Stimmrecht, das aber
mit seinen indirekten Wahlen und den häufigen
Veränderungen, die es erlitt, überaus kompliziert
war. Auf die Verfassungen der übrigen europäi-
schen Staaten wirkte die französische Revolution
zunächst nicht unmittelbar ein. In England waren
es zuerst die Reformanträge, in deren Mittelpunkt
namentlich Lord Russell und O'Connell standen,
welche wenigstens einige der schlimmsten Härten
des englischen Wahlrechts beseitigten. Gerade an
den Namen des letzteren knüpfen sich ja die Frei-
heitskämpfe der englischen Katholiken und die Be-
wegung in Irland, wodurch wenigstens erreicht
wurde, daß der Eid, der den Katholiken den Ein-
tritt ins Parlament unmöglich machte, beseitigt
wurde. Katholische Priester blieben jedoch auch
jetzt noch vom Parlament ausgeschlossen. Erst die
Julirevolution in Frankreich und darauf die Er-
hebung Belgiens waren es, die eine gewaltige
freiheitliche Strömung in ganz Europa hervor-
riefen, in deren Verlauf die Macht der privilegier-
ten Stände und berechtigten Klassen immer mehr