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unverträgliche Abhängigkeit von kirchlichen Ein-
flüssen herleiten.
Den Kampf gegen das im Kulturkampf an-
drängende preußische Staatskirchentum hat denn
auch Windthorst wesentlich vom Boden des
geltenden Verfassungsrechts aus mit
den Waffen geführt, welche der moderne Staat in
seinen Grundsätzen und Einrichtungen selbst an
die Hand gibt. Nur damit konnte er einer anders-
gläubigen, spezifisch katholischen Anschauungen
nicht zugänglichen Mehrheit gegenüber die Er-
folge erzielen, welche er dem mächtigsten Staats-
mann seiner Zeit abrang. Inbesondere war der
Antrag Windthorst betr. Straffreiheit des Sakra-
mentenspendens und des Messelesens der archime-
dische Punkt, von dem aus er den paragraphen-
reichen Bau der Maigesetze aus den Angeln hob.
Es gibt auch für die überlegene Taktik Windt-
horsts nichts Charakteristischeres als die Rede, welche
er am 26. Jan. 1881 in der ersten und zweiten
Beratung dieses Antrags hielt. Einleitend be-
merkte er: „Ich erscheine heute vor Ihnen nicht
in irgend welcher Absicht des Streits, ich komme
im eminent friedlichen Sinn, um namens der
ganzen katholischen Bevölkerung dieser Monarchie
an Sie die Bitte zu richten, für Ihre katholischen
Mitbürger in den Pfarreien, welche ganz oder
teilweise verwaist sind, eine Maßregel zu geneh-
migen, welche geeignet ist, den augenblicklich
dringendsten Notständen abzuhelfen. Ich verlange
in dem gegenwärtigen Augenblick keine Aufhebung
der Maigesetze, keine Anderung derselben; das Be-
streben, dieses Ziel zu erreichen, muß neben diesem
Antrag seinen Fortgang nehmen. Die gegenwärtig
von mir beantragte Maßregel ist eine lediglich
durch die Not gebotene, provisorische, temporäre;
das ganze System der Maigesetze bleibt durch diese
Maßregel vollständig unberührt.“ Und dann
führte er aus, daß die Strafbestimmungen gegen
Geistliche, welche maigesetzwidrig die heiligen Sa-
kramente gespendet und das heilige Meßopfer dar-
gebracht hatten, unvereinbar seien mit der im
Naturrecht begründeten freien Religionsübung,
mit dem auf dem Westfälischen Frieden beruhenden
allgemeinen Kirchenstaatsrecht Deutschlands, mit
den Versprechungen der preußischen Könige bei der
Einverleibung katholischer Landesteile und dem
Art. 12 der preußischen Verfassung.
Die parlamentarische Gesamttätigkeit
Windthorstsläßt sich kurz dahin charakterisieren: es
gab kaum eine wichtigere Frage, in der er nicht
das Wort nahm, auf deren Entscheidung er nicht
Einfluß übte: kirchenpolitische und Schulfragen
nicht nur, sondern auch Rechtsfragen, Verwal-
tungsfragen, Militär= und Finanzfragen. Es war
ihm selbstverständlich unmöglich, alle diese Fragen
in ihren Einzelheiten zu studieren. Stets waren
Windthorst.
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führte. Seine Freunde sagten wohl scherzhaft von
ihm: da rede er wieder „unbeeinflußt durch De-
tailkenntnisse“. Daran war etwas Wahres, und
gerade darin lag seine Stärke. Er ist nicht in
politischer und technischer Kleinarbeit auf= und
untergegangen; ein wunderbarer Instinkt ermög-
lichte es ihm, immer das zu erkennen, worauf es
ankam, immer den Kernpunkt der Sache mit
sicherem Blick und fast immer glücklichem Ausdruck
zu treffen. Meisterhaft verstand er auch bei den
Beratungen der Zentrumsfraktionen den richtigen
Moment zu fassen, um eine verlaufene Diskussion
zu der entscheidenden Frage zurückzuführen. Seine
politische Grundanschauung war zweisellos eine
konservative, aber nicht im altpreußisch-bureau-
kratischen Sinn; das Bewährte gab er nicht leicht-
hin auf, sperrte sich aber auch nicht engherzig gegen
das als notwendig erwiesene Neue. Wenn er am
24. März 1867 bei der Beratung des Ver-
fassungsentwurfs im norddeutschen Reichstag Be-
denken gegen die Einführung des geheimen Wahl-
rechts äußerte — das allgemeine, gleiche und
direkte Wahlrecht stand außer Frage —, so war
er im Lauf der Jahre in diesem Punkt vollständig
anderer Meinung geworden, wie er am 15. Jan.
1890 im deutschen Reichstag erklärte. Die Be-
seitigung des einmal eingeführten Reichstagswahl-
rechts bezeichnete er als unmöglich, ja als ein
„Verbrechen“. Der föderative Charakter der
Bundesverfassung fand in Windthorst stets den
entschiedensten Vertreter, ohne daß er jedoch par-
tikularistischer Reichsscheu huldigte; vielmehr er-
kannte er sehr bald, daß immer wieder vom Reich
aus angesetzt werden müsse, um den berechtigten
Beschwerden der Katholiken in manchen Einzel-
staaten abzuhelfen. Wie auf die Beilegung des
kirchenpolitischen Konflikts in Preußen die starke
Stellung der Zentrumsfraktion im Reichstag von
großem Einfluß war, so blieb dieselbe auch in der
Folge entscheidend für die Einflußnahme des ka-
tholischen Volksteils auf die Gestaltung des öffent-
lichen Lebens im Reich wie in den Einzelstaaten.
In der Franckensteinschen Klausel (§ 8 des Zoll-
tarifgesetzes vom 15. Juli 1879) wahrte Windt-
horst den notwendigen Zusammenhang zwischen
den Finanzen des Reichs und der Einzelstaaten.
In Militärfragen war er bereit, das sachlich Ge-
botene zu bewilligen; im Streit um das Militär=
septennatsgesetz von 1887 hatte er „jeden Mann
und jeden Groschen“ bewilligt; lediglich um die
budgetrechtliche Frage, ob das Geforderte auf drei
oder auf sieben Jahre zu bewilligen sei, war der
Kampf entbrannt. Das Militärgesetz des Jahrs
1890 kam unter seiner hervorragenden Mit-
wirkung zustande. So vorsichtig und feinbörig
Windthorst in allen Dingen war, am meisten
einem Gegner wie Fürst Bismarck gegenüber, so
mehrere Fraktionsgenossen für ihn tätig, um das lag ihm doch jegliches Intrigieren sern. Die
Material zusammenzutragen und zu sichten, ihn Behauptung, sein (durch den Bankier Bleichröder
mit möglichster Knappheit zu insormieren, manch= veranlaßter) Besuch bei Bismarck unmittelbar vor
mal noch in der Droschke, die ihn in die Sitzung dessen Sturz (20. März 1890) sei darauf an-