Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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unverträgliche Abhängigkeit von kirchlichen Ein- 
flüssen herleiten. 
Den Kampf gegen das im Kulturkampf an- 
drängende preußische Staatskirchentum hat denn 
auch Windthorst wesentlich vom Boden des 
geltenden Verfassungsrechts aus mit 
den Waffen geführt, welche der moderne Staat in 
seinen Grundsätzen und Einrichtungen selbst an 
die Hand gibt. Nur damit konnte er einer anders- 
gläubigen, spezifisch katholischen Anschauungen 
nicht zugänglichen Mehrheit gegenüber die Er- 
folge erzielen, welche er dem mächtigsten Staats- 
mann seiner Zeit abrang. Inbesondere war der 
Antrag Windthorst betr. Straffreiheit des Sakra- 
mentenspendens und des Messelesens der archime- 
dische Punkt, von dem aus er den paragraphen- 
reichen Bau der Maigesetze aus den Angeln hob. 
Es gibt auch für die überlegene Taktik Windt- 
horsts nichts Charakteristischeres als die Rede, welche 
er am 26. Jan. 1881 in der ersten und zweiten 
Beratung dieses Antrags hielt. Einleitend be- 
merkte er: „Ich erscheine heute vor Ihnen nicht 
in irgend welcher Absicht des Streits, ich komme 
im eminent friedlichen Sinn, um namens der 
ganzen katholischen Bevölkerung dieser Monarchie 
an Sie die Bitte zu richten, für Ihre katholischen 
Mitbürger in den Pfarreien, welche ganz oder 
teilweise verwaist sind, eine Maßregel zu geneh- 
migen, welche geeignet ist, den augenblicklich 
dringendsten Notständen abzuhelfen. Ich verlange 
in dem gegenwärtigen Augenblick keine Aufhebung 
der Maigesetze, keine Anderung derselben; das Be- 
streben, dieses Ziel zu erreichen, muß neben diesem 
Antrag seinen Fortgang nehmen. Die gegenwärtig 
von mir beantragte Maßregel ist eine lediglich 
durch die Not gebotene, provisorische, temporäre; 
das ganze System der Maigesetze bleibt durch diese 
Maßregel vollständig unberührt.“ Und dann 
führte er aus, daß die Strafbestimmungen gegen 
Geistliche, welche maigesetzwidrig die heiligen Sa- 
kramente gespendet und das heilige Meßopfer dar- 
gebracht hatten, unvereinbar seien mit der im 
Naturrecht begründeten freien Religionsübung, 
mit dem auf dem Westfälischen Frieden beruhenden 
allgemeinen Kirchenstaatsrecht Deutschlands, mit 
den Versprechungen der preußischen Könige bei der 
Einverleibung katholischer Landesteile und dem 
Art. 12 der preußischen Verfassung. 
Die parlamentarische Gesamttätigkeit 
Windthorstsläßt sich kurz dahin charakterisieren: es 
gab kaum eine wichtigere Frage, in der er nicht 
das Wort nahm, auf deren Entscheidung er nicht 
Einfluß übte: kirchenpolitische und Schulfragen 
nicht nur, sondern auch Rechtsfragen, Verwal- 
tungsfragen, Militär= und Finanzfragen. Es war 
ihm selbstverständlich unmöglich, alle diese Fragen 
in ihren Einzelheiten zu studieren. Stets waren 
Windthorst. 
  
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führte. Seine Freunde sagten wohl scherzhaft von 
ihm: da rede er wieder „unbeeinflußt durch De- 
tailkenntnisse“. Daran war etwas Wahres, und 
gerade darin lag seine Stärke. Er ist nicht in 
politischer und technischer Kleinarbeit auf= und 
untergegangen; ein wunderbarer Instinkt ermög- 
lichte es ihm, immer das zu erkennen, worauf es 
ankam, immer den Kernpunkt der Sache mit 
sicherem Blick und fast immer glücklichem Ausdruck 
zu treffen. Meisterhaft verstand er auch bei den 
Beratungen der Zentrumsfraktionen den richtigen 
Moment zu fassen, um eine verlaufene Diskussion 
zu der entscheidenden Frage zurückzuführen. Seine 
politische Grundanschauung war zweisellos eine 
konservative, aber nicht im altpreußisch-bureau- 
kratischen Sinn; das Bewährte gab er nicht leicht- 
hin auf, sperrte sich aber auch nicht engherzig gegen 
das als notwendig erwiesene Neue. Wenn er am 
24. März 1867 bei der Beratung des Ver- 
fassungsentwurfs im norddeutschen Reichstag Be- 
denken gegen die Einführung des geheimen Wahl- 
rechts äußerte — das allgemeine, gleiche und 
direkte Wahlrecht stand außer Frage —, so war 
er im Lauf der Jahre in diesem Punkt vollständig 
anderer Meinung geworden, wie er am 15. Jan. 
1890 im deutschen Reichstag erklärte. Die Be- 
seitigung des einmal eingeführten Reichstagswahl- 
rechts bezeichnete er als unmöglich, ja als ein 
„Verbrechen“. Der föderative Charakter der 
Bundesverfassung fand in Windthorst stets den 
entschiedensten Vertreter, ohne daß er jedoch par- 
tikularistischer Reichsscheu huldigte; vielmehr er- 
kannte er sehr bald, daß immer wieder vom Reich 
aus angesetzt werden müsse, um den berechtigten 
Beschwerden der Katholiken in manchen Einzel- 
staaten abzuhelfen. Wie auf die Beilegung des 
kirchenpolitischen Konflikts in Preußen die starke 
Stellung der Zentrumsfraktion im Reichstag von 
großem Einfluß war, so blieb dieselbe auch in der 
Folge entscheidend für die Einflußnahme des ka- 
tholischen Volksteils auf die Gestaltung des öffent- 
lichen Lebens im Reich wie in den Einzelstaaten. 
In der Franckensteinschen Klausel (§ 8 des Zoll- 
tarifgesetzes vom 15. Juli 1879) wahrte Windt- 
horst den notwendigen Zusammenhang zwischen 
den Finanzen des Reichs und der Einzelstaaten. 
In Militärfragen war er bereit, das sachlich Ge- 
botene zu bewilligen; im Streit um das Militär= 
septennatsgesetz von 1887 hatte er „jeden Mann 
und jeden Groschen“ bewilligt; lediglich um die 
budgetrechtliche Frage, ob das Geforderte auf drei 
oder auf sieben Jahre zu bewilligen sei, war der 
Kampf entbrannt. Das Militärgesetz des Jahrs 
1890 kam unter seiner hervorragenden Mit- 
wirkung zustande. So vorsichtig und feinbörig 
Windthorst in allen Dingen war, am meisten 
einem Gegner wie Fürst Bismarck gegenüber, so 
mehrere Fraktionsgenossen für ihn tätig, um das lag ihm doch jegliches Intrigieren sern. Die 
Material zusammenzutragen und zu sichten, ihn Behauptung, sein (durch den Bankier Bleichröder 
mit möglichster Knappheit zu insormieren, manch= veranlaßter) Besuch bei Bismarck unmittelbar vor 
mal noch in der Droschke, die ihn in die Sitzung dessen Sturz (20. März 1890) sei darauf an-
	        
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