Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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deren Straßenbahnen viel älteren Datums sind, 
kaum erreicht, geschweige denn übertroffen. Sie 
dienen wie die großen gemeindlichen Licht- 
und Kraftwerke in erster Linie den wirt- 
schaftlichen Interessen der städtischen Bevölke- 
rung. In der Fürsorge für diese und in der 
Schaffung von Wohlfahrtseinrichtungen der ver- 
schiedensten Art haben sich die deutschen Städte 
ein weites und dankbares Betätigungsfeld er- 
schlossen und durch die zahlreichen wirtschaftlichen 
Einrichtungen (Gemeindebetriebe), welche 
notwendige Bedürfnisse ihrer Einwohnerschaft be- 
friedigen und dem allgemeinen Wohl dienen, den 
Gemeindesozialismus ein erhebliches Stück seiner 
Verwirklichung näher gebracht. 
Die wichtigsten dieser Unternehmungen sind: 
Gasanstalten, Wasser-und Elektrizi- 
tätswerke. Am weitesten ist die Verstadtlichung 
bei den Wasserwerken fortgeschritten; dann folgen 
die Gasanstalten und Elektrizitätswerke. Es waren 
1907 im Deutschen Reich von je 100 Wasser- 
werken 94, Gasanstalten 81,9, Elektrizitäts- 
werken 73,5 Gemeindebetriebe. Von sonstigen 
Unternehmungen kommen noch in Betracht: Spar- 
kassen, Leihanstalten, Schlacht= und Viehhöfe, 
Markthallen, Häfen und Vorortbahnen, Abfuhr= 
und Müllverwertungsanstalten, Gemeindezeitungen 
und -druckereien, land-und forstwirtschaftliche Be- 
triebe, Stadttheater und -orchester, Volksküchen 
und Arbeitsnachweise, Badeanstalten, Begräbnis- 
wesen usw. Die Frage, ob und in welchem Um- 
fang die Städte berufen seien, aktiv in das wirt- 
schaftliche Leben einzugreifen, war lange Zeit 
strittig. Heute aber ist diese Frage wenigstens in 
den größeren deutschen Städten zugunsten des 
Kommunalisierungsgedankens entschieden. 
In Deutschland ist die mustergültige Ausbil- 
dung der Gemeindebetriebe im wesentlichen das 
Werk und Verdienst einer Anzahl hervorragender 
Männer, welche die zahlreichen neuen Aufgaben 
an der Spitze der Verwaltung unserer großen 
Städte gefunden haben. Die deutschen Gemeinde- 
unternehmungen sind von Beamten geschaffen 
worden, nicht wie die englischen von Kauf- 
leuten und Fabrikanten. Bei der Gegen- 
überstellung der Vor= und Nachteile der Gemeinde- 
und Privatbetriebe ist heute allgemein (auch in der 
Wissenschafth die Ansicht vorherrschend, daß die Vor- 
teile bei weitem überwiegen und die Verstadtlichung 
der wichtigsten öffentlichen Betriebe einen nicht zu 
unterschätzenden Kulturfortschritt darstellt. „Denn 
das eigentliche letzte Problem bei dieser Entwick- 
lung ist in den Industriestaaten — und nur da 
sind sie in größerem Umfang vertreten —, den 
wachsenden Massen der städtischen Bevölkerung 
ein menschenwürdigeres, ein besseres Kulturdasein 
zu verschaffen und die Schäden und Nachteile, die 
das Zusammenleben so vieler Menschen auf engem 
Raum mit sich bringt, nach Moglichkeit abzu- 
schwächen oder aufzuheben. Und diese Aufgabe 
  
Städtewesen, modernes. 
  
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haupten dürfen — die Munizipalisierung 
in der Tat im großen und ganzen erreicht: nur 
durch sie haben unsere modernen Städte die Kultur- 
höhe erreicht, welche sie heute repräsentieren“ (Ver- 
handlungen des Vereins für Sozialpolitik in 
Wien 11909] über die wirtschaftlichen Unter- 
nehmungen der Gemeinden. Schriften des ge- 
nannten Vereins CXXXII 132/133). Der Prozeß 
der Munizipalisierung wird solange fortschreiten 
und weiter an Bedeutung zunehmen, als durch 
das Wachstum der Städte und die steigende 
Kulturentwicklung immer wieder neue Bedürfnisse 
der Allgemeinheit oder doch eines großen Teils 
der Bevölkerung hervortreten, die auf diesem Weg 
am zweckmäßigsten zu befriedigen sind. 
Der Verstadtlichungsgedanke hat sich in neuester 
Zeit auf Gebiete gewagt, vor denen noch vor 
20 Jahren der Kommunalpraktiker wie auch der 
Theoretiker weit zurückgeschreckt wäre. Schon gibt 
es in einer ganzen Reihe deutscher Städte ge- 
meindliche Schweinemästereien, Oypotheken- 
banken sowie regelrechte Grundstücks- 
geschäfte (Ankauf und Verkauf von Liegen- 
chaften aller Art), und eine neue Ara des 
Munizipalsozialismus hat begonnen, seitdem die 
Städte dazu übergegangen sind, gewerbliche 
Unternehmungen (Straßen- und Vorortbahnen, 
Überlandzentralen), an denen die Allgemeinheit 
ein besonderes Interesse hat, zwar nicht in jedem 
Fall selbst zu betreiben, aber durch finanzielle Be- 
teiligung (meist in der Form eines Aktionärs) 
mehr oder weniger dem Einfluß der Stadtverwal- 
tung zu unterstellen. Bemerkenswert ist, daß auch 
in Großbritannien seitdem die Gesetzgebung 
die Errichtung bzw. Ubernahme von Erwerbs- 
unternehmungen durch die Lokalverwaltungen er- 
leichtert hat (seit den 1870er Jahren), diese in 
steigendem Maß kommunale Anstalten errichten. 
In Frankreich und den romanischen Ländern 
dagegen ist die Neigung zur Ubernahme solcher 
Werke in eigne städtische Verwaltung immer noch 
sehr gering. 
Die erhebliche Erweiterung des Aufgaben- 
kreises der größeren Städte hat auch eine beträcht- 
liche Steigerung ihrer finan ziellen Aufwen- 
dungen zur Folge gehabt. In Deutschland 
ist in weit höherem Maß als die Staatsausgaben 
der Bedarf der Städte in den letzten Jahrzehnten 
gestiegen, nicht nur zur Erfüllung der Pflichtauf- 
gaben (Schul= und Armenwesen, Ortspolizei, Zi- 
vilstands= und Volkszählungswesen, Rechtspflege 
und Durchführung der Gewerbeordnung und Ar- 
beiterversicherungsgesetze), sondern noch in viel 
stärkerem Grad bei den freiwilligen Aufgaben 
(Kanalisation und Straßenreinigung, Beleuch- 
tungswesen, Städtebau, Wasser-, Licht= und 
Kraftversorgung, Parks und Anlagen, Markt- 
hallen, Schlachthöfe,. Krankenhäuser, mittleres und 
höheres Unterrichtswesen, Friedhofwesen usw.). 
Die Ausgabensteigerung beschränkt sich aber nicht 
— 
hat — das wird man wohl widerspruchslos be- auf Deutschland allein, sie tritt vielmehr in allen
	        
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