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die letzte Entscheidung: Deutschland hat den Krieg an Ruß-
land und Frankreich erklärt. Wie mit einem Blitzstrahl
wurde der ganze Ernst der Lage grell beleuchtet, als nicht
nur Reserve und Landwehr, sondern in manchen Grenz-
bezirken — in Sachsen allerdings zunächst noch nicht —
sogleich auch der Landsturm aufgerusen ward. An dem-
selben Tage folgte das Ultimatum an Belgien; sodann am
4. August, was man in weiteren Kreisen zunächst kaum für
mröglich gehalten hatte, die Kriegserklärung des als stamm-
verwandt angesehenen England an uns. Der Krieg um
Deutschlands Dasein, der europäische Krieg, der Weltkrieg
war schaudernd und dennoch stolz erlebte Wirklichkeit ge-
worden.
Die Mobilmachung des Heeres vollzog sich in Sachsen
wie anderwärts nach vorgesehenem Plane mit einer Pünkt-
lichkeit und Genauigkeit, wie sie bei dem an strengste Pflicht-
erfüllung und peinliche Ordnung gewöhnten Beamtentum
erwartet werden durfte. Aber es geschah mehr, als das von
den Oberen verlangte; nun hieß es: „Das Volk siehr auf,
der Sturm bricht los.“ Eine geistige Mobilmachung setzte
ein, nicht vorausberechnet und künstlich gemacht; nein, aus
dem tiefsten Urgrund der Volksseele brach es hervor, ganz
ursprünglich und elementar, vergleichbar der Bewegung vor
hundert Jahren in den Freiheitskriegen, deren man soeben
erst feiernd gedacht hatte, nur noch allgemeiner, massiger,
mit größerer Wucht. Sie ist das Herrlichste, was Deutsch-
land im Weltbrieg erlebt hat, ewig denkwürdig, unverlier-
bar, ein ehernes Stück deutscher Geschichte, das keine Schick-
salswende hinwegzuräumen vermag, bedeutsam für alle Zu-
kunft: denn dieser Geist der reinsten Vaterlandsliebe und
höchsten Opferbereitschaft für die staatliche Gemeinschaft und
die große völkische Einheit, die uns alle umschließt, mag er
auch, wie die geschichtliche Erfahrung lehrt, nur in ungewöhn-
licher Zeit mächtig emporlodern, wird aus dem Gedächtnis
nie völlig verlöschen. Auch Sachsen hat an dieser Bewegung
des Geistes von 1914 seinen vollen Anteil gehabt, gewaltiger,
ungehemmter, allumfassender als einst an der geistigen Er-
bebung der Freiheitskriege 1813/14; ja, es darf gesagt
werden: das Erleben von 1914 war die größte und un-
widerstehlichste Bewegung allgemeiner vaterländischer Be-
geisterung, die über Sachsen in seiner Geschichte bisher
überhaupt dahingeflutet ist. Es war eine harte, eiserne
Jeit; in Sachsen, wo der Volkscharakter, dem eine gewisse
Weichheit eigen ist, bisher seine besten Eigenschaften bei Wer-
ken des Friedens bewährt hatte, weckte der Aufschwung
zu heroischem Denken und Fühlen schlummernde Seelen-
bräfte seltener Art, deren Entfaltung eine ganz ungewöhn-
liche Lebensbereicherung bedeuteten. Etwas davon festzu-
halten, wird das Köstlichste und Wertvollste sein, was eine
Darstellung „Sachsens in großer Zeit“ über das geistige
Leben in unserem engeren Vaterlande während des Welt-
brieges zu bieten imstande ist.
Forschen wir nach den tiefsten Ursachen des seelischen
Aufschwungs, der dem deutschen und sächsischen Volke im
Sommer 1914 wie ein herrliches Wunder geschenkt war,
so werden wir ohne Selbstüberhebung bekennen dürfen: eine
solche Bewegung erwächst nur auf dem Grunde eines völlig
reinen Gewissens; ein Volk, dem das Bewußtsein seiner
Schuldlosigkeit getrübt ist, kann niemals die Kraft dazu
finden. Felsenfest waren die Deutschen und unter ihnen
die Sachsen, die soeben erst in ehrlichem Wettkampf um
die Palme friedlicher Kulturarbeit erhebliche Aufwendun-
gen gemacht hatten, davon überzeugt, daß sie nur von außen
her durch die Scheelsucht und das Ränkespiel der Feinde
in diesen fürchterlichen Krieg hineingezwungen wurden; sie
vertrauten auf die bewährte Friedensliebe des Deutschen Kai-
sers und die Gewissenhaftigbeit seiner Regierung: nur nach
der Erschöpfung aller friedlichen Mittel, dies stand ihnen
unverrückbar fest, war der unausweichliche Entschluß, in
diesen Krieg zu gehen, gefaßt worden. So fühlten sie sich
von der Schuld am Kriege frei; man müßte denn den
glänzenden wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands, an dem
Sachsen redlichen Anteil hatte, und das gesteigerte nationale
Selbsibewußtsein als Ursachen gelten lassen wollen, welche
die Mißgunst der Gegner hervorriefen und mit zur Welt-
katastrophe trieben. Um so unumstößlicher war die Gewiß-
heit von der Schuld der Feinde, von dem bitteren uns an-
getanen Unrecht. Nur Belgien gegenüber war, so mochte
es damals scheinen, unser Vorgehen unter rechtlichem Ge-
sichtspunkt nicht ganz einwandsfrei; doch das offene Be-
kenntnis des Reichskanzlers in diesem Punkt mit der Ver-
heißung künftiger Wiedergutmachung, später so oft als
politisch unklug getadelt, half zunächst dazu, bei nicht wenig
Volköygenossen die Uberzeugung zu stärken, daß Deutschland
nur in ußerster Lebensnot, wenigstens nicht mit geheimem
Unrecht, zu den Waffen griff. Daraus ging ja der unver-
gleichliche Schwung der geistigen Bewegung von 10914 her-
vor, daß dieser uns aufgezwungene Krieg allgemein als
Landesverteidigung ins Volksbewußtsein einging, als un-
bedingt notwendiger Schutz des über alles geliebten Vater=
lands in höchster, von den Feinden frevelhaft herauf-
beschworener Gefahr. Not lehrt beten, sagt das Sprichwort
und weist damit auf die Hinwendung der Seele zu der höch-
sten Kraft alles Guten in der Welt; Not weckt die besten
schlummernden Kräfte des Innenlebens zu ungeahnter Ent-
faltungsfähigbeit und lehrt sich zusammenzuraffen und zu
Leistungen, die menschenunmöglich scheinen, zu steigern. So
ward der Geist von 1914 aus gutem Gewissen und dem
elementarsten Triebe des Selbstschutzes zur Erhaltung
der lebensnotwendigsten und höchsten Güter geboren. Sehr
bald aber gesellte sich dazu die Erhebung des Gemüts, die
aus dem Erfolg großer Tat hervorgeht; denn nach den
ersten Wochen verhaltener Spannung bamen in rascher Folge
die einander überstürzenden Nachrichten, die Sieg auf Sieg
verkündeten; kaum mochte man Anlaß finden, die an den
sonnig strahlenden Tagen zur Siegesfeier wehenden bunten
Fabnen über Nacht einzuziehen. Der Notruf eines aufs
äußerste bedrohten Volkes wandelte sich in millionenfach
hallenden Jubel. Am reinsten und klarsten kam bei alle-
dem der ursprünglichste Grundgedanke des Verteidigungs-
krieges bei den Ereignissen in Ostpreußen zum Ausdruck:
siegreiches Zurückschlagen der verwüstend ins gefährdete Land
einbrechenden russischen Massenheere auf dem Schlachtfeld
um Tannenberg unter Hindenburgs genialer Führung. In-
des auch im Westen, nach dem gewaltigen Vorstoß ins
nördliche Frankreich hinein, ward wieder ein gigantisch an-
gelegter Abwehrkampf geführt; denn in der unermeßlichen
Schützengrabenlinie von den Höhen des Oberelsaß bis zu
der flandrischen Küste nahe am Kanal stand fest und treu
die Wacht zum Schutze der fernen Heimat.
Wie aber trat nun, an welchen Merkmalen erkennbar,
jene geistige Bewegung von 1914 in die Erscheinung? Vor
allem war es der Zug wundervoller Einmütigkeit des gan-
zen Volkes, der ihr in großartiger Weise ein völlig harmo-
nisches Gepräge verlieh: das Fürstenhaus, die Höchstgebil-
deten und der einfache, schlichte Mann, Stadt= und Land-
bevölkerung, Unternehmertum und Arbeiterschaft, alle waren
von gleicher Gesinnung erfüllt; die Parteien, Konservative,
Liberale und Sozialdemokratie, mochten sie sich das Ver-
bleiben bei ihren politischen Grundsätzen vorbehalten, rich-
teten den inneren Burgfrieden auf, damit die gesammelte
Kraft zur Erhaltung der Volkseinheit das Höchste zu leisten
vermöchte. Gerade dies war so tröstlich und erhebend, daß
auch die Arbeiter, die in Sachsen den Hauptteil der ge-
samten Einwohnerschaft ausmachen, nicht abgesondert von
den übrigen Volkögenossen beiseite standen; freudig über-
rascht entdeckte gar mancher, wie lieb und wert ihm sein
Vaterland schon gewesen war.