„Immer schon haben wir eine Liebe zu dir gekannt,
Bloß wir haben sie nie mit einem Namen genannt.
Herrlich offenbarte es erst deine größte Gefahr,
Daß dein ärmster Sohn auch dein getreuester war!
Denk' es, o Deutschland“
(Dichtung von einem Arbeiter.)
Ein Volk, ein Herzschlag, so hieß es jetzt einhellig, wie
nie zuvor. Bei solchem Denken trat die Bedeutung der
eigenen Persönlichkeit gegenüber der Millionen umfassen-
den Gesamtheit unendlich zurück. Bisher waren mit Vor-
liebe Rechte gefordert worden; jetzt galt die Pflicht. Oas
Begehren verstummte, Losung ward Opferbereitschaft jedes
einzelnen mit allen Wünschen und Hoffnungen, ja mit
dem ganzen Sein für die Rettung von Staat und Volk. Dies
war die unnachahmliche Größe und Hoheit jener Zeit, daß
solcher Opfersinn wirklich in Geist und Gemüt lebte: nicht
äußerem Zwange folgend, sondern mit freiem Willen gab
man sich hin, wahrhaftig nicht leichten Sinns, oft genug
in schmerzlichster Erfahrung nach schwerem Ringen mit
sich selbst, doch in der tiefen Erkenntnis der unentrinnbaren
Notwendigkeit. So entzündete sich eine wahre Aufopferungs-
lust: zu den Fahnen drängten sich Hunderttausende, die
nicht gerufen waren, selbst Knaben und Männer in weiß-
lich-grauem Haar; oder sie eilten zum Dienst an den Kran-
ken, zur Bereitung von Liebesgaben, zu sozialem Hilfswerk.
Man wollte nicht gemächlich genießen, wo andere darb-
ten; mit brennender Sehnsucht wünschte man selbst Ent-
behrungen zu leiden, ungewöhnliche Arbeit zu tun, die eigenen
Kräfte Leibes und der Seele über das Maß anzuspannen
und sich aufzureiben, um nur nicht allzusehr hinter denen
zurückzubleiben, die persönlich das größte Opfer, oft in
furchtbarer Qual, brachten, dle Hingabe von Gesundheit
und blühendem Leben.
Ein leuchtendes Beispiel echten Opfermuts gab der Professor
der Theologie an der Leipziger Universität C. R. Gregory, der,
Amerikaner von Geburt, seit 1874 hier als Dozent tätig war. Am
I1. August 1014 stellte er sich, bereits im Alter von 68 Jahren,
als Kriegsfreiwilliger beim 1. Ersatzbataillon des Infanterieregi-
ments 106 in Leipzig und setzte es wirklich durch, daß er an-
genommen ward. Nach zwei Jahren Kriegsdienstes gefragt,
warum er ins deutsche Heer eingetreten und darin geblieben sei,
gab er in seiner einfachen drastischen Art zur Antwort: „Ich bin
nicht Soldat geworden, um pspychologische Studien zu machen,
um reisen zu können, um „Spaß“ zu haben, um eine Uniform
tragen zu dürfen oder um meinen Ehrgeiz zu befriedigen. Ich
bin Soldat geworden, weil ich es für meine Pflicht hielt.“ Sein
Entschluß war gefaßt, sobald England in die Reihe der mit dem
Deutschen Reiche Krieg führenden Staaten eintrat. Drei Beweg-
gründe bezeichnete er als für ihn entscheidend: zuerst war es der
Gedanke, daß es jetzt galt, alles einzusetzen; sodann der Wunsch,
seinen Freunden aus kem Arbeiterstande zu zeigen, daß er sich
nicht davor scheute, mit ihnen in Reih und Glied zu stehen und
das Schwere des Kriegslebens mit ihnen zu teilen, endlich die
Erwartung, daß der Dienst eines noch älteren Mannes den
Jüngeren den Dienst annehmbarer erscheinen lassen würde. Am
. April 1017 erlag er in Neufchätel den Folgen einer Ver-
wundung, nachdem er im Felde draußen, wie zuvor in seiner
Wissenschaft, im alademischen Lehramt und in seiner herzgewinnen-
den sozialen Betätigung den Grundsatz seines Lebens bewährt
hatte: Helfer zu sein in der Nachfolge Christi und im Dienst
werktätiger Nächstenliebe.
In solcher Zeit, wo die allumfassende Volksgemein-
schaft als die jede individuelle Verschiedenheit weit über-
ragende Einheit beherrschend hervortrat, wo Leben und Tod
als die gleichen Grundtatsachen alles menschlichen Seins
mit greifbarer Deutlichkeit vor der Seele standen, drang
eine in dem Kulturreichtum der letzten Friedenszeit längst
verlorene Schlichtheit und Einfalt des Denkens und Fühlens
durch. Alles gleißende Flitterwerk, aller Aufputz und er-
borgte Schein, alle die Künste, mit welchen Menschen so
oft ihr Dasein gefällig ausstaffieren, verloren ihre Schätzung;
nur das Echte und Wahre, das ganz Große behielt seinen
Wert. Was gemeinverständlich im besten Sinne ist, was
in allen Zeiten zu bestehen vermag, was ganz ursprünglich
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und einfach aus der Seele quillt und zum Herzen spricht,
dies allein vermochte in der Erregung jener Tage seine
Geltung zu bewahren, ja überhaupt erträglich zu sein. Von
wenigen allgemeinsten Leitgedanken ward die Mannigfaltig=
keit der Vorstellungen des Alltags zurückgedrängt; bild-
mäßige Anschaulichkeit, instinktives Erfassen der Lage, ele-
mentarster Willensausdruck kennzeichneten die Regungen der
Volkoseele. So waren innere Geschlossenheit, Urtümlich-
keit, mächtiger Willensimpuls die Wirkungen jenes denk-
würdigen Geistes von 1914, der sich, wo die Not am größten
war, wie eine wundersame Kraft aus der Höhe belfend und
heilend einstellte. Endlich noch eins: Wie eine Lösung inne-
rer Spannung in der Notzeit nach Kriegsausbruch 1914
war das Durchbrechen des Humors, im Kreise der Sol-
daten bräftiger und derber als in der Heimatbevölkerung,
wo Abschiedsweh und Alltagssorge ihn nicht in gleichem
Maße aufkommen ließen. Oft war es freilich ein grimmiger
Humor, während sonst der gutmütige dem Sachsen mehr
Universitätsprofessor C. R. Gregory, der älteste
Kriegsfreiwillige im deutschen Heer
liegt, Auch darin offenbarte sich das reinliche Volbsgewissen;
denn aus schuldbedrücktem Herzen dringt er nicht hervor.
Gilt all das über den Geist von 1914 Gesagte für ganz
Deutschland, so sind die einzelnen Veranstaltungen, welche
die Ausbreitung solcher Gesinnung in Sachsen förderten,
im besondern aus den Zuständen des geistigen Lebens in
diesem Lande hervorgegangen. Aus der Fülle dessen, was
getan ward, sei nur weniges erwähnt, um ein Charakterbild
des Geschehenen zu entwerfen.
Eine der Grundkräfte der Seele, bisweilen auf der
Oberfläche des Bewußtseins unsichtbar, aber dann aus ver-
borgenen Tiefen brechend, ist die Religion. Wie den Kämpfen
von 1813 eine Erweckung zu Gottesfurcht, männlich starker
Frömmigkeit und christlicher Gesinnung vorausgegangen
war, so brach auch im Sommer 1914, in einer Zeit tiefster
Seelennot und höchsten geistigen Schwunges, weithin im
Volke Religion aus gehelmnisvollem Urgrund des Innen=
lebens hervor. In diesen Tagen sehnenden Drangs nach
Erlösung von schwerem seelischen Druck versäumte die
Kirche nicht, als Hüterin des altehrwürdigsten Schatzes
religiöser Uberlieferung ihren Helferdienst am Volke zu tun.
Schon vor Kriegsausbruch waren die Worte des 46. Psalms
auf der Kanzel erklungen und ausgedeutet worden: „Gott