Wilhelm Tell und Wallenstein, H. von Kleists Prinzen von
Homburg, Lessings Minna von Barnhelm oder Dramen aus
deutscher Sage und Geschichte (Wildenbruch: Deutscher Kö-
nig), natürlich auch einfache Volksstücke. Aber noch eigen-
artiger waren andere künstlerische Veranstaltungen, die dem
Volksempfinden voll und ganz entsprachen. Zu den ge-
lungensten und schönsten gehörten die Abende, an denen
Kammersänger Alfred Kase mit „feldgrauer“ Beglei-
tung in Leipzig und anderwärts „Vaterländische Lieder“ vor-
trug. Man weiß ja, daß Kase nicht nur durch den Wohl-
laut seiner herrlichen, männlich kräftigen, aufs trefflichste
ausgebildeten Stimme entzückt; man kennt ihn, der eigene
kleine Gedichte veröffentlicht hat, auch als eine edle mensch-
liche Persönlichkeit, der nur tief und wahr Empfundenes im
Gesange entströmen wird. Nur einfache Volkslieder wurden
gewählt; aber wie wußte er sie mit seiner feinsinnigen Vor-
tragskunst ganz unvergleichlich lebendig zu machen, wenn
er „das Land, so wunderschön, in seiner Eichen grünem
Kranz“ in Tönen hinmalte und die markigen Lieder der Frei-
heitskriege sang oder in der Volksweise „Steh' ich in finstrer
Mitternacht so einsam auf der stillen Wacht“ mit zartester
Innigkeit, fast visionär, das ferne Lieb, das dem Soldaten
treu und hold verbleibt, schauen ließ. Auch der Humor fehlte
nicht: „Prinz Eugen, der edle Ritter!“ Hei, das klang
wie Ungewitter weit ins „Serbenlager“ hin — dazu Sol-
datenlieder des sächsischen Armeekorps, schon einzelne neue
Terte und Weisen (von Fr. Ad. Beyerlein), natürlich auch
mit stärkster dramatischer Wirkung die Wacht am Rbein!
Wie ein das Deutschtum verkörpernder Sänger stand Kase
da in der dichtgedrängt ihn umgebenden und umjubelnden
Menge! Wem es vergönnt war, in der Stimmung jener
Tage ihn zu hören, dem wird dies ein unvergeßliches Er-
lebnis sein. —
In einer Zeit, wo das ganze Volk handelnd und
leidend auftritt, wird vielstimmiger Chorgesang zur
Wiedergabe der herrschenden Gefühle besonders geeignet
sein. Als Beispiel solcher Darbietungen möge ein Konzert
des Leipziger Riedelvereins, damals unter Leitung von Rich.
Wetz, in der Thomaskirche Erwähnung finden; die gewähl-
ten Werke — zwei in trotzigem Kampfesmut erschallende
Hussitenlieder, Choralvorspiel und Lieder von Joh. Seb.
Bach, der 23. Psalm (Gott ist mein Hirt) mit seinem
milden Trost von Fr. Schubert für Frauenchor und Orgel
komponiert, Beethovens Opferlied, die kernigen Fest= und
Gedenksprüche von Joh. Brahms, am Schluß der 43. Psalm
(Richte mich Herr) in der Vertonung von F. Mendelssohn-
Bartholdy — sollten den Geist der ehernen geit mit ihren
ungeheuren Beweisen sittlichen Ernstes und unerhörten Lei-
stungen tatkräftigen Opfermuts #m deutschen Volke charak-
tervoll zum Ausdruck bringen. — Auch eines Vorgangs
sei hier gedacht, der nicht auf weite Kreise gewirkt hat,
aber doch in seiner Weise ein Zeichen der Zeit war. Eine
ostpreußische Volksschriftstellerin, Frieda Jung, kam als
Flüchtling nach Leipzig und trug hier sowie in Grimma und
anderwärto mit ansehnlichem Erfolg ihre Erzählungen und
Gedichte vor, ganz schlicht und einfach, aber von warmem,
tiefem Gemüt, natürlich auch nicht ohne Humor. Oie
freundliche Aufnahme, die sie bei alt und jung fand, ge-
fördert von dem herzlichen Anteil der Sachsen an dem
Geschick ihres Heimatlandes, zeigte, wie es wirklich wohl-
tuend war, in Kunstwerken wenn auch nur kleinerer Form
einmal nicht die problematischen Naturen, die in selbst-
geschaffener Pein bei ihren Lebenskonflikten keinen Ausweg
wissen, bevorzugt zu sehen, sondern von geradsinnigen Men-
schen, die das Herz auf dem rechten Fleck haben, zu bören.
Zu solchen Veranstaltungen, wo Poesie und Tonkunst den
Reigen führten, gesellten sich andere, die durch gedanken-
volle Rede zu wirken unternahmen. In einem weltgeschicht-
lich so bedeutsamen Augenblick mußten die Historiker zum
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Wort kommen. So sprach der Leipziger Universitätsprofessor
Karl Lamprecht am 23. August „Zur neuen Lage“,
später über „Deutsche Zukunft“, in Dresden und Halle
auch über „Belgien“. Von München kam Erich Marcks
zu einem großzügig angelegten und gerecht abwägenden Vor-
trag über die Frage: „Wo stehen wir?“ So warmherzig
diese Ansprachen auf deutsches Empfinden gestimmt waren,
gaben sie gleichsam den Ton dafür an, daß von namhaften
Historikern in Sachsen Reden mit einseitig übertreibender
Verherrlichung deutscher Nation oder gar Verunglimpfung
der Gegner nicht gehalten wurden. Ein anerkennenswertes
Verdienst erwarb sich der Schillerverein zu Leipzig,
indem er an seinen „Vaterländischen Abenden“ große Scha-
ren andächtiger Hörer zu innerer Erhebung und mancherlei
Belehrung in der Alberthalle, später in der Universität sam-
melte. Orgelspiel des unermüdlichen Organisten Oberlehrer
Max Fest, Gesänge und Dichtungen (unter Mitwirkung von
Kammersinger Alfred Kase in Leipzig
Mitgliedern der städtischen Theater) umrahmten eine Rede,
die einem Gegenstand von augenblicklicher Bedeutung oder
dem Ausdruck großer Gemeingefühle gewidmet war. Am
ersten Abend sprach der Historiker Erich Brandenburg über
die Ursachen der russischen Feindschaft gegen DOeutschland.
Sehr beherzigenswert blieben die Worte des Mediziners Pro-
fessor von Strümpell über die körperliche und sittliche Kraft
im Kriege, mit dem prophetischen Hinweis, wie wichtig die
Stärke der Nerven in einem jeden Volk für die Entschei-
dung des begonnenen Kampfes sein werde. Am eindrucks-
vollsten, wenigstens für einen stattlichen Kreis der Höher=
gebildeten, war der Abend, an welchem Wilhelm Wundt
sprach; es war ein feierlicher Moment, als nach dem ein-
leitenden Orgelvortrag der greise Gelehrte von Weltruf, Leip=
zigs Ehrenbürger, zum Rednerpult schritt und die Ver-
sammelten sich zu ehrfurchtsvollem Gruße von ihren Plätzen
erhoben. Auf der hohen Warte philosophischer Betrachtung
sprach er „üÜber den wahren Krieg“ in einem der Auffassung
Fichtes verwandten Sinn, indem er ihn als einen Kampf
um die Freiheit und die höchsten sittlichen Güter schilderte.
Aus einem Vergleich der bei den jetzt miteinander kämpfen-
den Völkern emporgekonunenen Phillosopbien ergab sich eine