Full text: Sachsen in großer Zeit. Band III. Die Kriegsjahre 1916-1918. (3)

Wilhelm Tell und Wallenstein, H. von Kleists Prinzen von 
Homburg, Lessings Minna von Barnhelm oder Dramen aus 
deutscher Sage und Geschichte (Wildenbruch: Deutscher Kö- 
nig), natürlich auch einfache Volksstücke. Aber noch eigen- 
artiger waren andere künstlerische Veranstaltungen, die dem 
Volksempfinden voll und ganz entsprachen. Zu den ge- 
lungensten und schönsten gehörten die Abende, an denen 
Kammersänger Alfred Kase mit „feldgrauer“ Beglei- 
tung in Leipzig und anderwärts „Vaterländische Lieder“ vor- 
trug. Man weiß ja, daß Kase nicht nur durch den Wohl- 
laut seiner herrlichen, männlich kräftigen, aufs trefflichste 
ausgebildeten Stimme entzückt; man kennt ihn, der eigene 
kleine Gedichte veröffentlicht hat, auch als eine edle mensch- 
liche Persönlichkeit, der nur tief und wahr Empfundenes im 
Gesange entströmen wird. Nur einfache Volkslieder wurden 
gewählt; aber wie wußte er sie mit seiner feinsinnigen Vor- 
tragskunst ganz unvergleichlich lebendig zu machen, wenn 
er „das Land, so wunderschön, in seiner Eichen grünem 
Kranz“ in Tönen hinmalte und die markigen Lieder der Frei- 
heitskriege sang oder in der Volksweise „Steh' ich in finstrer 
Mitternacht so einsam auf der stillen Wacht“ mit zartester 
Innigkeit, fast visionär, das ferne Lieb, das dem Soldaten 
treu und hold verbleibt, schauen ließ. Auch der Humor fehlte 
nicht: „Prinz Eugen, der edle Ritter!“ Hei, das klang 
wie Ungewitter weit ins „Serbenlager“ hin — dazu Sol- 
datenlieder des sächsischen Armeekorps, schon einzelne neue 
Terte und Weisen (von Fr. Ad. Beyerlein), natürlich auch 
mit stärkster dramatischer Wirkung die Wacht am Rbein! 
Wie ein das Deutschtum verkörpernder Sänger stand Kase 
da in der dichtgedrängt ihn umgebenden und umjubelnden 
Menge! Wem es vergönnt war, in der Stimmung jener 
Tage ihn zu hören, dem wird dies ein unvergeßliches Er- 
lebnis sein. — 
In einer Zeit, wo das ganze Volk handelnd und 
leidend auftritt, wird vielstimmiger Chorgesang zur 
Wiedergabe der herrschenden Gefühle besonders geeignet 
sein. Als Beispiel solcher Darbietungen möge ein Konzert 
des Leipziger Riedelvereins, damals unter Leitung von Rich. 
Wetz, in der Thomaskirche Erwähnung finden; die gewähl- 
ten Werke — zwei in trotzigem Kampfesmut erschallende 
Hussitenlieder, Choralvorspiel und Lieder von Joh. Seb. 
Bach, der 23. Psalm (Gott ist mein Hirt) mit seinem 
milden Trost von Fr. Schubert für Frauenchor und Orgel 
komponiert, Beethovens Opferlied, die kernigen Fest= und 
Gedenksprüche von Joh. Brahms, am Schluß der 43. Psalm 
(Richte mich Herr) in der Vertonung von F. Mendelssohn- 
Bartholdy — sollten den Geist der ehernen geit mit ihren 
ungeheuren Beweisen sittlichen Ernstes und unerhörten Lei- 
stungen tatkräftigen Opfermuts #m deutschen Volke charak- 
tervoll zum Ausdruck bringen. — Auch eines Vorgangs 
sei hier gedacht, der nicht auf weite Kreise gewirkt hat, 
aber doch in seiner Weise ein Zeichen der Zeit war. Eine 
ostpreußische Volksschriftstellerin, Frieda Jung, kam als 
Flüchtling nach Leipzig und trug hier sowie in Grimma und 
anderwärto mit ansehnlichem Erfolg ihre Erzählungen und 
Gedichte vor, ganz schlicht und einfach, aber von warmem, 
tiefem Gemüt, natürlich auch nicht ohne Humor. Oie 
freundliche Aufnahme, die sie bei alt und jung fand, ge- 
fördert von dem herzlichen Anteil der Sachsen an dem 
Geschick ihres Heimatlandes, zeigte, wie es wirklich wohl- 
tuend war, in Kunstwerken wenn auch nur kleinerer Form 
einmal nicht die problematischen Naturen, die in selbst- 
geschaffener Pein bei ihren Lebenskonflikten keinen Ausweg 
wissen, bevorzugt zu sehen, sondern von geradsinnigen Men- 
schen, die das Herz auf dem rechten Fleck haben, zu bören. 
Zu solchen Veranstaltungen, wo Poesie und Tonkunst den 
Reigen führten, gesellten sich andere, die durch gedanken- 
volle Rede zu wirken unternahmen. In einem weltgeschicht- 
lich so bedeutsamen Augenblick mußten die Historiker zum 
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Wort kommen. So sprach der Leipziger Universitätsprofessor 
Karl Lamprecht am 23. August „Zur neuen Lage“, 
später über „Deutsche Zukunft“, in Dresden und Halle 
auch über „Belgien“. Von München kam Erich Marcks 
zu einem großzügig angelegten und gerecht abwägenden Vor- 
trag über die Frage: „Wo stehen wir?“ So warmherzig 
diese Ansprachen auf deutsches Empfinden gestimmt waren, 
gaben sie gleichsam den Ton dafür an, daß von namhaften 
Historikern in Sachsen Reden mit einseitig übertreibender 
Verherrlichung deutscher Nation oder gar Verunglimpfung 
der Gegner nicht gehalten wurden. Ein anerkennenswertes 
Verdienst erwarb sich der Schillerverein zu Leipzig, 
indem er an seinen „Vaterländischen Abenden“ große Scha- 
ren andächtiger Hörer zu innerer Erhebung und mancherlei 
Belehrung in der Alberthalle, später in der Universität sam- 
melte. Orgelspiel des unermüdlichen Organisten Oberlehrer 
Max Fest, Gesänge und Dichtungen (unter Mitwirkung von 
  
Kammersinger Alfred Kase in Leipzig 
Mitgliedern der städtischen Theater) umrahmten eine Rede, 
die einem Gegenstand von augenblicklicher Bedeutung oder 
dem Ausdruck großer Gemeingefühle gewidmet war. Am 
ersten Abend sprach der Historiker Erich Brandenburg über 
die Ursachen der russischen Feindschaft gegen DOeutschland. 
Sehr beherzigenswert blieben die Worte des Mediziners Pro- 
fessor von Strümpell über die körperliche und sittliche Kraft 
im Kriege, mit dem prophetischen Hinweis, wie wichtig die 
Stärke der Nerven in einem jeden Volk für die Entschei- 
dung des begonnenen Kampfes sein werde. Am eindrucks- 
vollsten, wenigstens für einen stattlichen Kreis der Höher= 
gebildeten, war der Abend, an welchem Wilhelm Wundt 
sprach; es war ein feierlicher Moment, als nach dem ein- 
leitenden Orgelvortrag der greise Gelehrte von Weltruf, Leip= 
zigs Ehrenbürger, zum Rednerpult schritt und die Ver- 
sammelten sich zu ehrfurchtsvollem Gruße von ihren Plätzen 
erhoben. Auf der hohen Warte philosophischer Betrachtung 
sprach er „üÜber den wahren Krieg“ in einem der Auffassung 
Fichtes verwandten Sinn, indem er ihn als einen Kampf 
um die Freiheit und die höchsten sittlichen Güter schilderte. 
Aus einem Vergleich der bei den jetzt miteinander kämpfen- 
den Völkern emporgekonunenen Phillosopbien ergab sich eine
	        
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