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Vorkämpfer für geistige Freiheit hatte die volkstümlichste
Bewegung geistiger Art in der deutschen Geschichte hervor-
gerufen. Sollte er, Martin Luther, dessen Lieder soeben
Hunderttausende mit vorher nie gekannter Inbrunst ge-
sungen hatten, nicht etwas Besonderes zu sagen haben, in
solcher Zeit, da der alt böse Feind, von außen und innen,
mit groß Macht und viel List auf Erden ohnegleichen
dräute? So wurde denn die Feier in Sachsen, im Ur-
sprungolande der Reformation, überall gehalten: mit Ge-
denkpredigten schon im Verlaufe des Jahres, mit kirch-
lichen Gottesdiensten, mit geistlicher Musik, wobei sich die
beiden noch von alter geit bestehenden „Kurrenden“, der
Dresdener Kreuzkirchenchor und die Leipziger Thomaner
auszeichneten, mit Bühnenfesispielen (eindrucksvoll das von
Fr. Lienhard) und Aufführung lebender Bilder, natürlich
auch mit vielen Schriften wissenschaftlicher und volbsmäßi-
ger Art. Ohne äußeres Gepränge war es doch eine wirk-
liche Herzstärkung in schwerer Zeit. Eine Reformations-
dankstiftung wird das Gedächtnis dieses eigenartigen Re-
formationsfestes inmitten des Weltkrieges den Nachkommen
lebendig erhalten.
Den evangelischen Glaubensgenossen im Ausland hatte
seit langem der Gustav-Adolf-Verein, dessen Be-
strebungen einst von Leipzig ausgegangen waren, eine eif-
rige Tätigkeit gewidmet. Während des Krieges taten sich
neue Möglichkeiten der Fürsorge in den von deutschen Trup-
pen besetzten Gebieten auf; unter Leitung von Geh. Kirchen-
rat Professor Rendtorff nahm man sich dieser Aufgaben an,
um eine festere Organisation der evangelischen Kirche in
jenen Ländern der Diaspora durchzuführen. Eine große
Versammlung in Leipzig, in welcher Vertreter aus Lioland,
Polen, Siebenbürgen und Numänien sprachen, brachte die
augenblickliche Lage verheißungsvoll zum Augdruck. Un-
günstig stand es mit der Pflege der äußeren Mission
durch den Sächsischen Hauptmissionsverein und das Leip-
ziger Missionshaus bei der von den Gegnern Deutschlands
eingenommenen Haltung; eine schmerzliche und doch dank-
erfüllte Stunde war es, als die indischen Missionare, in
ihre weißen Gewänder gehüllt, nach ihrer Heimkehr in feier-
lichem Begrüßungsabend in der dichtgedrängten Nikolai-
kirche zu Leipzig willkommen geheißen wurden.
Endlich noch eine Bemerkung über die Art des reli-
giösen Erlebene der Sachsen im Kriege; ein Büch-
lein, von Pfarrer A. Neuberg und Pastor Er. Stange
herausgegeben, „Gottesbegegnungen im Weltbrieg“, gibt
darüber lehrreiche Auskunft. Es zeigt sich, daß den Sachsen,
mehr als anderen deutschen Stämmen, Mitteilsamkeit in
bezug auf solche Erlebnisse eigen ist, eine Neigung zu be-
schreibender Erzählung, zur Ausschmückung, aber auch nach-
denklich kritische Selbstbeobachtung; Unterschiede der Sach-
sen im meißnischen Niederlande, der Erzgebirgler und der
Lausitzer sind dabei festzustellen. Sicher hat der Krieg als
ein die Seele erschütterntes Ereignis manche Erweckung von
Gottesfurcht und Frömmigkeit im Volke bewirkt; freilich,
fragt man nach der Frucht sittlicher Läuterung und Bewäh-
rung, so wird es heißen müssen, wie im Gleichnis Jesu:
etliches fiel an den Weg, etliches unter die Dornen, etliches
aber auf ein gut Land und trug Frucht, etliches hundert-
fältig, etliches sechzigfältig, etliches dreißigfältig.
6. Die Pflege der Volksbildung
Ein Volkserlebnis von der Stärke und Tiefe, wie es
der Krieg 1914/18 war, der alle Musbeln und Nerven,
alle Kräfte des Verstands und Gemüts aufs dußerste an-
spannte, mußte von größter Bedeutung für alles, was
Volksbildung heißt, werden; denn was will Bildung anders,
als die Entwicklung aller im Menschen liegenden Fähig-
keiten zur Leistung des Höchsten und Besten, was ihm mög-
lich ist, zum echten und wahren Ausdruck des Innerlichsten,
was ihn beseelt? Alle Einrichtungen des Bildungswesens
in Staat und Gemeinde hatten unter den Kriegsfolgen zu
leiden; die Fragen nach Ziel und Wert der Bildung wurden
bei dem erschütternden Ernst der Zeit aufs neue lebendig,
Schäden der bisherigen Volksbildung wurden offenbar, neue
Möglichkeiten und Aufgaben erschlossen sich in Fülle.
Eine unbedingte Notwendigkeit war es, das Schul-
wesen Sachsens nach Kräften auf der Höhe, die es vor
dem Kriege eingenommen hatte, zu erhalten. Die oberste
Behörde des Landes, das Königlich Sächsische Ministerium
des Kultus und öffentlichen Unterrichts, und ebenso die
Schulverwaltungen der Gemeinden trafen Maßnahmen, um
die Durchführung des Schulbetriebs trotz aller Hemmungen
zu sichern, Erleichterung zu schaffen, wo es irgend angängig
war, und alles Ungewöhnliche, was der Kriegszustand er-
heischte, zu regeln. Die Lehrerschaft der höheren Schulen
wie der Volksschulen Sachsens kam den an sie gestellten
Anforderungen in willigster Selbstaufopferung, mit großer
Umsicht und vollem Versiändnis für alles, was in solcher
Jeit förderlich sein konnte, entgegen. Nicht nur der einzelne
leistete mit Aufbietung der letzten Kraft, was er für Staat
und Gemeinde, für die seiner Obhut anvertraute Jugend
zu tun vermochte; auch die bestehenden Vereinigungen in
den verschiedenen Gruppen der gesamten Lehrerschaft des
Landes nahmen sich der neu gestellten Aufgaben sozialer wie
pädagogischer Art mit großer Tatkraft an; was die Kriegs-
ausschüsse des Sächsischen Lehrervereins und seiner bedeu-
tendsten Ortsgruppen vollbrachten, war wirklich eine be-
wundernswerte Leistung, über die eigenen Reihen hinaus von
glücklichem Erfolg begleitet für weitere Kreise der Bevölke-
rung.
Für keine der im geistigen Leben wirkenden Berufs-
gruppen waren die Einberufungen in den Heeresdienst so
zahlreich, wie für die Lehrerschaft an den Gymnasien und
Realschulen wie an den Volksschulen. Ungewöhnlich reich
war daher die blutige Opfersaat, die aus diesem geistig hoch-
stehenden Kreise der sächsischen Bevölkerung draußen auf
dem Felde der Ehre eingestreut wurde. In der Heimat
mehrte sich die Arbeitslast gewaltig; ja es machte sich die
Erschtverung um so fühlbarer, als die vielfachen Störungen
durch die Notprüfungen, die häufigen schulfreien Tage,
durch Hilfsdienst der Jugend für vaterländische Notstands-
arbeit, Bereitstellung der Schulräume für allerhand mili-
tärische und soziale Zwecke, endlich auch durch die unver-
meidlichen Beschränkungen von Licht und Wärme einen
regelmäßigen und geordneten Schulbetrieb nicht mehr
ermöglichten. So wurde es nötig, den Lehrkörper einer
Schule, wo vielleicht ein Drittel der Lehrenden und mehr
abgerufen waren, durch Amtsgenossen von Schwester-
anstalten oder durch junge, noch nicht voll ausgebildete
Hilfskräfte zu ergänzen; ein besonderes Verdienst erwarben
sich dabei ältere Lehrer, die von neuem die Mühen des Un-
terrichts auf sich nahmen, und manche schon aus dem
Amte geschiedenen Lehrerinnen, die jetzt in der Not des
Vaterlands, mitten in hauofraulichen Sorgen, wieder un-
verdrossen Schuldienst verrichteten. Auch die sonst so wohl-
eingerichtete Schulordnung mußte sich schwankende An-
passungen an den Kriegszustand gefallen lassen. Klassen
wurden zusammengezogen, der Lehrstoff gekürzt und anders
iim Jahre verteilt. Die Unterrichtsmittel, Schulbücher und
Schreibpapier litten unter der allgemeinen Knappheit. Aber
wenn auch stete Unruhe in den Lehrbetrieb kam und es
manchmal nicht so genau genommen werden konnte, wie
gewissenhafte Pädagogik zu fordern gewohnt war, wenn
auch die Findigkeit manches Aushilfsmittel beschaffen mußte
und hier und da selbst die vergessene Schiefertafel wieder
ihren Dienst tat, dennoch — es wurde durchgehalten; und
mehr als dies, manche treuen Lehrer und Lehrerinnen, be-