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gesamte Volkswirtschaft war zu einer fast alle Branchen
kontrollierenden Staatswirtschaft geworden. Der Ex-
port war immer mehr eingeschränkt, auch er war „rationiert“
durch Handelsabkommen mit den neutralen Staaten, der
Schweiz, Holland, den nordischen Staaten, in denen fest-
gelegt wurde, was diese Staaten uns liefern, sowie was
Deutschlands Wirtschaft dagegen noch austauschen bonnte.
Was in diese Kontingente fiel, durfte ausgeführt werden,
solange das Kontingent nicht erfüllt war. Die Verzeich-
nisse der Waren aber, deren Ausfuhr überhaupt verboten
war, weil entweder das Heer oder die Zivilbevölkerung An-
spruch auf Versorgung mit diesen Waren hatte, waren auf
Tausende von Artikeln angewachsen. Für jeden, der im
Wirtschaftsleben tätig war, war in dieser Periode ersichtlich,
in wie hohem Maße Deutschland durch jahrelange, rücksichts-
lose Blockade wirtschaftlich abgeschnürt war.
Zur Durchführung des Hilfsdienstgesetzes und des Pro-
gramms wurde auch wiederum eine Neuorganisation, das
„Kriegvamt“ gegründek und in das Netz der be-
stehenden Kriegsgesellschaften soweit möglich, eingeordnet.
Dem zentralen Kriegsamt in Berlin unterstanden die
Kriegsamtstellen in den Bezirken der einzelnen Gene-
ralkommandos, Amter, die militärisch organisiert waren
und weitgehende Befugnisse wiederum auch für Eingriffe
in das industrielle Leben und die gewerbliche Produktion
besaßen. Sie sollten insbesondere die Versorgung der für
den Heeresbedarf arbeitenden Betriebe mit allem Nötigen
unternehmen, Schwierigkeiten, die sich hierin einstellen wür-
den, beseitigen und nach Möglichkeit auch der für den Er-
port arbeitenden Industrie Hilfe leisten. Sie besorgten wei-
ter die Beschaffung der Facharbeiter, die Heranziehung der
Hilfsdiensipflichtigen, die Verpflanzung von Arbeitern aus
einem Betriebe in den anderen, die Uberführung von Maschi-
nen aus stilliegenden Betrieben in weiterarbeitende, die
Erleichterung von Transporten und auf sozialpolitischem
Gebiete die Einrichtung der Schlichtungsausschüsse,
in denen Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeit-
nehmern und besonders Differenzen aus dem Hilfsdienst-
gesetze erledigt werden sollten, eine Einrichtung, die von
weittragender Bedeutung für die damalige Zeit sowohl wie
für die Zukunft war. Für die Zentralisierung der Beschaf-
fung des Heeresbedarfs wurde das „Wumba“, das Waf-
fen= und Munitionsbeschaffungsamt gegründet, das wohl
die größte Zentral-Beschaffungs-Behörde gewesen ist, die
überhaupt geschaffen wurde: sie arbeitete mit einem Per-
sonal von 800 Menschen. Die sächsische Industrie hat
sich den Gedanken des Hilfödienstgesetzes mit voller
Opferwilligkeit zu eigen gemacht und sich in den
Dienst des großen Gedankens gestellt, von dem man damals
erwartete, daß er die letzte große Kraftanstrengung der
deutschen Heere und des deutschen Wirtschaftslebens ermög-
lichen würde. Industrielle haben bei der Durchführung des
Gesetzes mitgewirkt, seine Härten für die Industrie zu
mildern gesucht und auf einer außerordentlichen Hauptoer-
sammlung des Verbandes Sächsischer Industriel-
ler wurde am 3. Dez. 191 in einer Resolution ausgesprochen:
„Die heutige Hauptversammlung des Verbandes Säch-
sischer Industrieller begrüßt die erfolgte Annahme des Ge-
setzes über den vaterländischen Hilfsdienst trotz der dadurch
gerade der sächsischen Industrie auferlegten Schtwierigkei-
ten mit vollster Genugtuung, weil sie in der höchsten
wirtschaftlichen Kriegsbereitschaft die beste Gewähr einer
baldigen siegreichen Beendigung des Krieges erblickt. Inner-
halb des Nahmens des Gesetzes erachtet sie eine Rücksicht-
nahme auf die Aufrechterhaltung der Ausfuhrmöglichkeit
nach den neutralen Ländern ebenso für geboten wie die Er-
haltung eines ausreichenden Stammes von Facharbeitern
für den Einzelbetrieb, um den Ubergang zur Friedenswirt-
schaft sicherzustellen. Bei der Durchführung des Gesetzes
fordert sie, daß neben der Errichtung neuer und der Er-
weiterung bestehender Munitionsfabriken auch die Umwand-
lung stillgelegter Betriebe anderer Gesehäftszweige in Werk-
stätten und Betriebe der Kriegsindustrie erfolgt, um hier-
durch die Erhaltung der volkswirtschaftlichen Kraft ganzer
Industriebezirke zu sichern und das Augeinanderreißen der
Familienbeziehungen der Arbeiter zu verhindern. Sie weist
dabei auch auf die Tatsache hin, daß in der sächsischen In-
dustrie und besonders in der Textilindustrie viele Arbeits-
lose vorhanden sind, welche mit ihren Familien nicht an
andere Orte verpflanzt werden können, so daß die arbeits-
gewohnte Kraft, namentlich Tausender von Frauen der
Munitionsherstellung entzogen werden würde, wenn die
Einrichtung neuer Munitionswerkstätten in diesen Gebieten
nicht erfolgt.“
Bei alledem war es eine merkwürdige Erscheinung, daß
gerade in dieser letzten Periode des Krieges die Kauflust
und die Kaufkraft weiter Kreise der Bevölke-
rung sehr gewachsen war. Wenn das auch einmal damit
zusammenhing, daß man in den ersten Kriegsjahren mit
der Deckung des Bedarfs zurückgehalten hatte, so war doch
der Hauptgrund die gewaltige Vermehrung der Jahlungs-
mittel, die Steigerung der Löhne, die vielfachen — übrigens
nicht auf einen kleinen Kreis beschränkten — Gewinne durch
die Kriegskonjunktur, namentlich durch die Zwischenhändler,
Schieber und die Masse der sogenannten „Kriegsgewinnler“,
d. h. derjenigen, die ohne produktiv tätig zu sein, durch
besondere Umstände mehr verdienten, als vor dem Kriege.
Daneben wirkte der Warenhunger, der sich einstellte, weil
man, immer in der Hoffnung auf ein baldiges Ende des
Krieges, die Bedarfsdeckung hintangehalten hatte, und man
nach mehrjährigem Gebrauch ohne Bedarfsdeckung die ent-
standenen Lücken zu füllen hoffte. Die Preise für die ein-
fachsten Artikel des Lebensbedarfes gingen durch diese ver-
stärkte Nachfrage und das gleichzeitige Vorhandensein großer
Mengen von Papiergeld immer mehr in die Höhe, wurden
aber gleichwohl angelegt; man kaufte und bestellte immer von
neuem. So berichten denn auch sehr viele sächsische Indu-
strien in den Jahren 1917/18 von der stürmischen Nach--
frage nach allen möglichen Industrieerzeugnissen, und diese
Nachfrage leerte auch die Läger von solchen Waren, die
bis dahin als unverkäuflich gegolten hatten. Namentlich
für Artikel der Tertilindustrie, aber auch der Porzellan-,
Glas-, Möbel-, Schuh-, Bebleidungsindustrie trat diese
Kauflust in Erscheinung, und sie hätte zu einer großartigen
Belebung der Industrie führen können, wenn nicht eben
der Mangel an Rohstoffen, insbesondere der Kohlenmangel,
die Produktion immer enger eingeschnürt hätke. Die Unter-
nehmungslust der Industrie war jedenfalls unvermindert;
man sieht das deutlich an dem über Erwarten günstigen Ver-
lauf der Leipziger Messen 1916 und 1017, wo die Jahl der
Aussteller auffallend gestiegen war, wo große Kollektionen
von Mustern, die vielfach mit Hilfe von Ersatzstoffen her-
gestellt waren, die Kauflust der vorhandenen Einkäufer weck-
ten und wo die Fabrikanten und Händler Aufträge erhielten,
die ihre Betriebe auf längere Zeit hinaus voll hätten be-
schäftigen können, vorausgesetzt, daß es möglich war, die
Rohstoffe und, soweit solche vorhanden waren, die Aus-
fuhrerlaubnis zu erhalten.
Während auf der Frühjahrsmesse 1015 2002 Aussteller
gezählt wurden, wuchs deren Zahl bei der Frühjahrsmesse
1916 auf 2438, im Frühjahr 1917 auf 2392, im Frühjahr
1918 auf 3630, die Zahl der Besucher belief sich 19 17 quf
40 doo, im Herbst 1918 auf 90 während die Zahl der
ausländischen Besucher im ständigen Steigen begriffen war.
Die anmeldepflichtige Ausfuhr belief sich im Frühjahr 1917
nach den Aufzeichnungen des zu Beginn 1917 in Tätigkeit
getretenen Meßamtes auf 3,8 Millionen Mark, im Herbst
1917 auf 10,6 Millionen Mark, natürlich nicht nur vom