Full text: Sachsen in großer Zeit. Band III. Die Kriegsjahre 1916-1918. (3)

gierung und vermöge des neuen Wahlrechts die zweite 
Kammer grundsätzlich neugeformt, so wird auch eine grund- 
sätzliche Neuformung der ersten Kammer un- 
vermeidlich sein. Dabei wird die Neugestaltung über den 
Regierungsentwurf, der zurzeit den Ständen vorliegt, 
hinausgehen müssen. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, 
möchte ich nur darauf hinweisen, daß die großen Berufs- 
stände Sachsens — ich denke an die Landwirtschaft, an 
die Industrie, an die Beamtenschaft, an die Arbeiterschaft usw. 
—ein Anrecht auf Vertretung durch Vertrauens- 
männer haben und diese selbst wählen sollen 
(Lebhaftes Bravol), unddaß Einzelpersönlichkeiten, 
die in irgendeiner Richtung hervorragen — Po- 
litiker, Gelehrte, Künstler, Journalisten usw. — 
dem öffentlichen Leben nutzbar zu machen sind. 
(Bravol) Auch hier muß der Wille walten, die Kräfte, 
die dem Staate Wertvolles leisten können, unmittelbar am 
Staatsleben teilnehmen zu lassen. Ist somit der Weg für 
eine Neubildung der ersten Kammer gegeben, so verschließt 
sich die Regierung auch nicht der Notwendigkeit, bei dieser 
Gelegenheit die Frage nachzuprüfen, ob an der Zu- 
ständigkeit der ersten Kammer zu ändern sei. 
Steht zu hoffen, daß durch die verfassungsrechtliche Neu- 
ordnung die lebendigen, im. Volke wirkenden Kräfte nach 
Möglichkeit frei gemacht werden, so steht weiter zu hoffen, 
daß es uns gelingt, im verantwortungsvollen Zusammen- 
arbeiten der überaus schwierigen Probleme Herr zu werden, 
die unserer Volkswirtschaft und unserer Kultur gestellt sind. 
Es sei mir gestattet, zunächst einige allgemeine Bemerkungen 
zu machen. 
Sowohl in der Zeit bis zum Friedensschluß als auch in 
der Ubergangszeit und später wird das Volk vieles entbehren 
müssen, was es vor dem Kriege als selbstverständlich ansah. 
Selbst der rührigsten, gewissenhaftesten, volkstümlichsten 
Verwaltung wird es beim Mangel an Nahrungsmitteln und 
Rohmaterialien nicht immer möglich sein, die Bedürfnisse 
des Volkes in der Weise zu befriedigen, wie sie es selbst 
möchte. Der beste Wille wird oft an der Macht der Tat- 
sachen scheitern. Darüber muß sich jeder im Volke klar sein, 
und er muß diese Klarheit in seinen Kräften verbreiten. Vor 
allem aber ist davor zu warnen, durch Unbedacht oder gar 
durch Gewalt Unordnung zu schaffen. Die Wohlfahrt des 
Volkes kann bei den überaus schwierigen Verhältnissen nur 
dann verbürgt werden, wenn alle verantwortlichen Posten 
sich ungestört in peinlichster Zusammenarbeit ihren Aufgaben 
widmen. Tritt Unordnung in dem überaus bomplizierten Ver- 
waltungoorganismus ein, so sind die schwersten Folgen für 
die Allgemeinheit zu befürchten. (Lebhaftes Sehr richtigl!) 
Die vorhandenen Vorräte sollen auf das gewissenhafteste er- 
faßt und verteilt werden. Die eigentliche Schwierig- 
keit besteht in der Knappheit der Vorräte und 
der Tranoportmittel. Kein Tumurlt ist imstande, die 
Vorräte zu steigern, mehr Brot zu schaffen, die Jahl der 
Eisenbahntvagen zu vermehren. Nur die Tat eines Wahn- 
sinnigen kann es sein, die Ordnung zu verwirren und dadurch 
das Volk dem Ruine entgegenzutreiben. (Lebhaftes Sehr 
richtig!) # 
Große Fragen, wie die der Neuorganisation unse- 
rer Wirtschaft, lassen sich nur dann glücklich lösen, wenn 
das Volk in seiner Gesamtheit mitarbeitet, wenn es willig die 
öffentlichen Organe, die doch nur im Dienste der Allgemeinheit 
stehen, unterstützt, wenn es vorhandene Schäden in ruhiger 
Sachlichkeit aufdeckt, und wenn der einzelne seinen Eigennutz 
überwindet. Das Publikum muß Selbstdisziplin üben und 
sich nicht so überstürzen, wie es jetzt in dem Bestreben tut, 
Zahlungemittel zu erlangen und aufzuspeichern. Durch dieses 
unbesonnene und ungerechtfertigte Verhalten ist unser Geld= 
wesen tatsächlich vorübergehend in eine sehr britische Lage 
gekommen. Keine Staatsform ist so sehr auf den Patriotis- 
420 
mus aller Bürger angewiesen wie die Demokratie, die 
allen Bürgern vor allem Teilnahme am Staats- 
leben gewährt. (Lebhaftes Sehr richtig! in der Mitie 
und links.) 
Im einzelnen sei nun bemerkt: 
Vor allem ist darauf Bedacht zu nehmen, den heim- 
kehrenden Kriegern lohnende Arbeit möglichst 
in ihrem Berufe zu verschaffen. Dazu bedarf es 
eines lückenlosen Aufbaus der Arbeitsvermittlung. 
Die auf diesem Gebiete geleisteten Vorarbeiten berechtigen 
zur Hoffnung, daß die Arbeitsvermittlung ihre wichtige 
Aufgabe bei der Demobilisation wird voll erfüllen können. 
Schwieriger ist die Frage der Rohstoffversorgung 
von Industrie und Gewerbe. Hier sind wir unablässig 
bemüht, insbesondere auch durch Einwirkung auf die Ber- 
liner Zentralstellen, eine möglichst rasche Zuführung der 
noch vorhandenen Nohstoffe, die jetzt selbstverständlich noch 
für Kriegszwecke zurückgehalten werden müssen, beim Ein- 
tritte des Friedens an die beteiligten Kreise zur Aufnahme 
ihrer Friedensarbeit sicherzustellen. Soweit auf diese Weise 
nicht für alle fleißigen Hände beim Eintritt des Friedens 
Arbeit und Verdienst geschaffen werden kann, muß eine 
weitgreifende Arbeitslosenfürsorge eintreten, die aller- 
dings nur einheitlich für das Reich, aber unter Berücksich- 
tigung der besonderen Verhältnisse durchgeführt werden 
kann. 
Zur Bewältigung eines Teiles dieser Aufgaben sowie der 
Durchführung der Demobilisierung im Lande wird die 
Gründung eines Arbeitsamts in Erwägung gezo- 
gen, das unter Umständen einem der Minister ohne De- 
partement unterstellt werden soll. 
Der Volksernährung wendet sich die Regierung mit 
größter Aufmerksamkeit und nicht ohne ernste Sorge zu. 
Die Maßnahmen innerhalb des Landes, so sehr wir bereit 
sind, die Vorräte scharf zu erfassen und gerecht zu verteilen, 
bönnen uns nicht über Wasser halten. Wir sind auf die Hilfe 
der Reichsstellen in Berlin angewiesen. Wir werden nicht 
müde werden, dort mit allem Nachdrucke eine ausreichende 
Berücksichtigung zu verlangen und darauf hinzuweisen, daß 
auch die hingebendste Arbeit der neuen sächsischen Regierung 
nicht imstande sein wird, unserem Lande die Ordnung zu er- 
halten, wenn uns vom Reiche aus keine Hilfe zuteil wird. 
(Sehr richtig! Sehr wahr!) 
Kriegswucherer und gewerbomäßige Schleichhändler wer- 
den weder Duldung noch Schonung zu gewärligen haben. 
Aber auch hier muß das ganze Volk mitarbeiten. Die Staats- 
anwaltschaften sind angewiesen, auf das strengste gegen 
Wucher und gewerbsmäßigen Schleichhandel vorzugehen; 
wir sind aber weithin lahm gelegt, weil das Publikum sich 
scheut, Anzeigen zu erstatten. 
Die Lage der Landwirtschaft hat sich durch die Ein- 
wirkung des Krieges, namentlich infolge des Mangels an 
Arbeitskräften, Spannvieh und Düngemitteln je länger je 
mehr verschlechtert, und es verdient deshalb besondere An- 
erkennung, daß die in der Heimat zurückgebliebenen Land- 
wirte — größtenteils alte Leute und Frauen — unter Uber- 
windung auch der Schwierigkeiten, die ihnen die Zwangs- 
wirtschaft gebracht hat, die Wirtschaften weitergeführt und 
damit die Volksernährung bis zu einem gewissen Grade 
sichergestellt haben. Den Wiederaufbau der Landwortschaft 
nach dem Kriege wird sich die Regierung auch i#m all- 
gemeinen Interesse des Landes angelegen sein lassen. 
Die Ausgestaltung der landwirtschaftlichen Berufsver- 
tretung durch Aufnahme der kleinen landwirtschaftlichen 
Grundbesitzer sowie von Angestellten und Arbeitern wird in 
Aussicht genommen. Wenn auch die Verhandlungen hierüber 
bisher zu beinem praktischen Ergebnis geführt haben, so 
steht doch für die Regierung außer Zweifel, daß in dieser
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.