Full text: Das Regenbogen-Buch - Die europäischen Kriegsverhandlungen.

30. Juli 279 
  
  
ich gleichfalls Abschrift beilege, welcher zeigt, dass die ofien- 
siven militärischen Vorbereitungen Deutschlands an der Grenze 
weiter vorgeschritten sind, als irgendwelche diesbezüglichen 
Massnahmen, die Frankreich unternommen hat. Seine Ex- 
zellenzmeinte,dassdieAggressionDeutsch- 
lands entweder die Form einer Forderung 
annehmen würde,dassFrankreichseinemili- 
tärischen Vorbereitungen einstelle, oder 
einer Forderung, dassessichim Falle eines 
deutsch-russischen Krieges zur Neutralität 
verpflichte Natürlich könne Frankreich 
keine dieser Forderungen annehmen.!) 
Ich teilte dem Botschafter mit, dass morgen früh ein 
Kabinettsrat stattfinden und dass ich ihn nachmittags wieder 
sprechen würde. 
BIb.Nr. 105. ') Bei diesem Passus, der die Voraussetzung für einen 
englisch-französischen Bündnisfall betrifft und auf Grund dessen Frank- 
reich Englands Hilfe fordert, ist es nötig, einen Augenblick zu verweilen. 
Damit Frankreich berechtigt ist, von England Hilfe zu verlangen, d.h. zu- 
nächst den durch den Briefwechseldes Jahres 1912 begrenzten Fall zu dis- 
kutieren, bedarf es einer deutschen «Aggression». Die deutschen militä- 
rischen Vorbereitungen, über die für den Zweck der Sache eine Note in 
London überreicht wurde, genügen nicht. Dass Deutschland über Frank- 
reich herfallen wird, das darf Cambon auch nicht hoffen. Worin besteht 
also die für das französisch-englische Zusammenarbeiten unbedingt 
notwendige deutsche Aggression ? Sie besteht in einer etwaigen deut- 
schen Aufforderung an Frankreich, nicht gegen Deutschland zu rüsten, 
oder, falls Deutschland nicht einmal das tut, in der deutschen Anfrage, 
ob Frankreich neutral bleiben wolle! Diese Interpretation des Wortes 
Aggression, des Begriffes Ueberfall oder Angriff, ist wohl beispiellos in 
dem Sprachgebrauch, dem Denkvermögen und der diplomatischen Ge- 
schichte derWelt. Sie genügteaberCambon und Grep durchaus 
zur Unterbreitung ihres Kriegsbündnisses vor demeng- 
lischen Ministerrat. Dass in dem Entschluss, dem Ministerrat 
die Frage vorzulegen, ob England an Frankreichs Seite das Schwert 
gegen Deutschland ergreifen solle, von Belgien natürlich überhaupt 
noch nicht die Rede ist, soll hier nur nebenbei erwähnt werden. 
Nebenbei kann auch nur erwähnt werden, dass die als Anlage 3 im 
Bib. Nr. 105 angeführte Notiz über deutsche Vorbereitungen an der fran- 
zösischen Grenze inhaltslose Gerüchte enthält. Interesse hat sie nur 
unter diesem Gesichtspunkte: Wenn Grep in dieser von französischer 
Seite überreichten, zweifellos tendenziösen und für rein diplomatische 
Zwecke hergestellten Darstellung deutscher Massnahmen an der Grenze 
die Grundlage einer Aggression und die Voraussetzung für eine Kriegs- 
sitzung des Ministerrates sah, was musste er, wollte er logisch bleiben, 
dann erst in der russischen Mobilmachung gegen Oesterreich-Ungarn 
und der russischen Gesamtmobilmachung gegen Deutschland sehen ? 
Er sah nichts darin und Frankreich auch nicht, garnichts als Vor- 
sichtsmassregeln, über die Deutschland sich nicht beunruhigen durfte, 
ohne «den Krieg zu provozieren >! 
Eine humori- 
stische Inter- 
pretation des 
Wortes _ 
„Aggression”.
	        
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