Full text: Das Regenbogen-Buch - Die europäischen Kriegsverhandlungen.

Viviani be- 
schuldigt 
Deutschland, 
es provoziere 
den Krieg. 
324 1. August 
  
  
Aus diesen Tatsachen geht hervor, dass Oesterreich sich 
endlich einem Arrangement geneigt zeigt, wie auch, dass die 
russische Regierung bereit ist, auf Grund des englischen Vor- 
schlages in Verhandlungen einzutreten. ?) 
Leider scheinen diese Dispositionen, die auf eine friel- 
liche Lösung hoffen liessen, tatsächlich durch Deutschlands 
Haltung annulliert zu sein. Deutschland hat in der Tat der rus- 
sischen Regierung ein Ultimatum gestellt, das ihr 12 Stunden 
bewilligt für die Entmobilisierung, nicht nur in Bezug auf 
Deutschland, sondern auch auf Oesterreich; mittag läuft die 
Frist ab. Das Ultimatum ist durch nichts gerechtfertigt, da 
Russland den englischen Vorschlag angenomimen hat, der einen 
Stillstand der militärischen Vorbereitungen aller Mächte ein- 
begreift.°) 
Deutschlands Haltung beweist, dass es den Krieg will. 
Und es will ihn gegen Frankreich.*) Als gestern Herr von 
GIb.Nr. 120. *) Es muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass 
die französische Diplomatie sich noch nicht über den Plan einig war, die 
Bereitwilligkeit Oesterreichs, mit Russland das Ultimatum zu besprechen, 
und Deutschlands Fragestellung an Russland gegeneinander auszu- 
spielen. Jules Cambon, in einem Telegramm vom gleichen Tage, Gib. 
Nr. 121, sieht die < deutsche Perfidie» nicht dort, wo Viviani sie sieht. 
Er telegraphiert in der Tat: «Das Ultimatum an Russland schaltet die 
letzten Friedensaussichten aus, die diese Unterhaltungen noch bestehen 
liessen (die russisch- österreichischen). Man kann sich fragen, ob unter 
diesen Umständen die Bereitwilligkeit Oesterreichs auf- 
richtig war und nicht bezweckte, die Verantwortlich- 
keit des Konfliktes auf Russland zu schieben». Jules 
Cambon sieht also immerhin ein, dass Russland durch seine allgemeine 
Mobilmachung die Verhandlung mit Oesterreich-Ungarn zerschlagen 
hat, während Viviani die russische Mobilmachung mit Schweigen über- 
geht und sich nur mit ihren Folgen, der deutschen Demarche, beschäf- 
tigt und nun diese, und nicht die russische Mobilmachung, für den 
Umschwung verantwortlich macht! 
°) Das ist nicht richtig. Russland hatte nicht den englischen 
Vorschlag angenommen, in dem — als Voraussetzung — die Einstellung 
aller militärischen Vorbereitungen verlangt wurde, sondern die allge- 
meine Mobilmachung angeordnet und einen Gegenvorschlag formuliert, 
in dem es nur eine «abwartende Haltung» versprach, d. h. bis auf 
die Zähne gerüstet. 
*) «Und es will ihn gegen Frankreich».... Diese Darstellung 
ist nicht diskutierbar. Dass Deutschland auf dem Umwege über 
einen Österreichischen Krieg gegen Serbien und einen deutsch- 
russischen Krieg, den Krieg gegen Frankreich als sein wahres Ziel 
betrachtet, das ist eine so aussergewöhnliche politische Auffassung, 
dass man Mühe hat, daran zu glauben, sie gehe von den leitenden 
Staatsmännern einer "europäischen Grossmacht aus. In diese These 
aber hatte sich Viviani verliebt. Er wiederholte sie in seiner Re- 
gierungserklärung vom 4. August 1914 und gab ihr in der Regierungs- 
erklärung vom 22. Dezember 1914 folgende klassische Formel: « Und
	        
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