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bezeichnet werden. Die Lückenhaftigkeit fällt auch dem ober-
flächlichsten Leser sofort auf. Es muss ihm in der Tat ver-
wunderlich erscheinen, dass die russische Regierung kein
massgebendes Dokument über ihre Verhandlungen mit Serbien
veröffentlichte. Mag es noch hingehen, dass der Zeit zwi-
schen dem Attentat von Serajewo und der Ueberreichung
des österreichisch-ungarischen Ultimatums kein einziges
Dokument gewidmet ist, so kann man sich schwer damit
abfinden, dass in der darauffolgenden Zeitspanne nicht ein
russisches Dokument die Behauptung Russlands, es habe
in Belgrad zur grössten Mässigung geraten, unterstützt.
Dieselbe Lückenhaftigkeit ist bei den Verhandlungen Russ-
lands mit den Grossmächten zu beobachten. Der eigentliche
Wortführer ist Sasonow. Die Berichte der Botschafter über
ihre Demarches in den Hauptstädten sind sehr spärlich. Und
Sasonow selbst berichtet über die wirklich massgebenden
und entscheidenden Besprechungen, die in Petersburg statt-
fanden, nichts oder nur wenig.
All dies geht mühelos aus dem Vergleiche mit den
Veröffentlichungen der andern Regierungen, hauptsächlich
der englischen Regierung hervor. Entscheidende Massnah-
men wie die russische allgemeine Mobilmachung werden
überhaupt nicht erwähnt. Wichtige österreichisch-ungarische
Erklärungen bleiben dem Leser des Orangebuches voll-
ständig unbekannt. Und was viel schwerwiegender ist —
wichtige Kundgebungen Sasonows selbst, die wir aus den
übrigen Veröffentlichungen kennen, sind im Orangebuche
verschwiegen oder nur verstümmelt enthalten. Daher gibt
die Lektüre dieses Buches nur eine bruchstückförmige Dar-
stellung. Die Ereignisse hüpfen und springen an uns vorbei.
Trotzdem aber wird auf den vorurteilslosen Leser kaum der
Eindruck erweckt, den eine derartige Zusammenstellung
offenbar bezweckte. Auch die sorgsam ausgewählten und
bearbeiteten Dokumente enthüllen noch mehr als die russi-
.sche Regierung enthüllen wollte. Auch aus ihnen geht hervor,
dass die russische Friedensliebe, die Sasonow ständig be-
tont, kaum mehr als eine ganz allgemeine, theoretische
Friedensliebe ist, mit der der konkrete Einzelfall der russi-