Full text: Staatsbürgerliche Belehrungen in der Kriegszeit. Band 2. (2)

46 Dr. Otto Hoetzsch 
3. Dazu kommt die Sprache. Die eingewanderten Bulgaren haben die 
Sprache der unterworfenen Slawen angenommen. Nur wenige Erinne— 
rungen tatarischer Art finden sich noch in ihrer Sprache, die durch Aufnahme 
türkischer Worte etwas ergänzt sind. Im Sprachbau und im größten Teil 
des Wortschatzes ist das Bulgarische ein Sweig des flawischen Sprachstamms, 
Das bedeutet ein weiteres Moment in den Beziehungen zu Rußland: schon 
äußerlich, weil die bulgarische Sprache mit denselben Schriftzeichen wie die 
russische geschrieben wird und darum von vornherein dem Westeuropäer 
besondere Schwierigkeiten entgegenstellt, aber auch geistig. Dom GSusammen- 
bruche des zweiten bulgarischen Reiches am Ende des 15. Jahrhunderts 
an lebte das bulgarische Dolk in Dunkelheit und Knechtschaft. Mühsam er- 
halten sich gerade durch die Geistlichkeit seine geschichtlichen Erinnerungen, 
seine Dolkslieder, seine Heldengesänge. In der Mitte des 18. Jahrhunderts 
beginnt eine Zewegung, die alles dies wieder beleben möchte und die mit 
der Meubelebung des Altertums, der Heldensagen, der Geschichte zugleich 
auch politisch die Befreiung Bulgariens von dem türkischen Joche und die 
Erhebung zu einem neuen selbständigen Staate proklamiert. Danach haben 
die Zulgaren gehandelt und gestrebt wie die anderen Dölker der Balkan- 
halbinsel auch. Und zwar sind sie die letzten, die diesen Weg beschritten 
haben. Erst kommen die Serben, dann die Griechen, dann die Rumänen 
und zuletzt, seit Mitte der 20er Jahre des 10. Jahrbhunderts, auch die Bulgaren. 
In dem großen Kampfe der orientalischen Frage, der 1875 einsetzt und der mit 
dem Kongreß von Berlin 187 8 (s. Artikel IIIA) vorläufig beendet wurde, ent- 
stand zum ersten Male wieder ein halb selbständiges Bulgarien. Rußland hatte 
es viel größer gewollt; ein Großbulgarien, das von der europäischen Türkeiso 
gut wie nichts übrig gelassen hätte, das war das Staatswesen, das Graf Igna- 
tiew dem Sultan im Frieden von San Stefano abpreßte. Es ist bekannt, daß 
unter der Dermittlung des Fürsten Bismarck auf dem Berliner Kongreß 
zwischen England und Rußland dieses Großbulgarien sehr beschnitten wurde, 
indem sein südlicher Teil zwischen Balkan und Rhodope, das sogenannte Ost- 
rumelien, bei der Türkei blieb, und nur das eigentliche Donaubulgarien der 
Keim des selbständigen neuen Staatswesens wurde. Die Enttäuschung 
darüber war in Rußland ebenso groß wie in Bulgarien selbst, und es ist 
sehr begreiflich, daß die Beziehungen zwischen Bulgarien und Rußland 
daraufhin enger und enger wurden. Sie ergaben sich durch die Sprache, 
sie ergaben sich durch die Körderung des geistigen Lebens, die aus Zuß- 
land kommen konnte und dort durch die panflawistischen Kreise mit Absicht ge- 
fördert wurde. Seit den 60er Jahren nahmen russische Organisationen, 
die dafür begründet waren, bulgarische Schüler, Studenten, Göglinge der 
Offiziersschulen als Stipendiaten auf und förderten sie auf alle Weise. 
Natürlich nahmen diese jungen Bulgaren mit dem Aufenthalt in russischen 
Schulen auch seh#r viel vom russischen Geist an. Nun versuchte Rußland 
in seinem Interesse ein so großes BZulgarien zu schaffen, das bei- 
nahe den größten Teil des ersten bulgarischen Reiches unter dem Saren 
Simeon wieder herstellte. Aber auch das war Grund zur Dankbarkeit für 
Bulgarien. Rußland hat das selbständige Zulgarien von heute in seinem
	        
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