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Abänderung der in den einzelnen Staaten bestehenden Bestimmungen über die
Verpflichtung zur Armenpflege der eigenen Staatsangehörigen einzugehen. In
Anbetracht dieser Bedenken und in Erwägung, daß dem dringendsten Bedürfnis
schon durch gesetzliche Bestimmungen über die Verpflichtung zur Armenpflege der
Angehörigen eines andern Bundesstaates abgeholfen werden könne, liege es nicht in
der Absicht des Präsidiums, den Gegenstand auf der in der vorigen Sitzung
von der Mehrheit angenommenen Grundlage weiter zu verfolgen. Es werde
daher der Entwurf in dem Sinne einer Umarbeitung unterworfen werden, daß
er sich auf die Regelung der Armenpflege in dem Fall beschränke, wo der
Angehörige eines Bundesstaates in dem Gebiete eines andern hilfsbedürftig
werde. Mit Rücksicht auf diese Erklärung wurde alsdann beschlossen, den
besonderen Ausschuß nach dem Eingange des umgearbeiteten Entwurfes mit der
anderweiten Beratung des Gegenstandes zu beauftragen. Ganz am Schlusse
der Session legte der Bundeskanzler dem Bundesrat den umgearbeiteten Gesetz-
entwurf über den Unterstützungswohnsitz vor. Von seiten des Bundeskanzler-
Amts war die Vorlage mit der Bemerkung begleitet worden, daß der Gesetz-
entwurf in der gegenwärtigen Form, wie sie dem erwähnten Beschlusse des
Bundesrats entsprach, nicht als eine wirksame Abhilfe der auf dem Gebiete
der Heimatsgesetzgebung bestehenden Uebelstände und Ungleichheiten erachtet
werden könne.
Die geschäftliche Erledigung der neuen Vorlage fällt in die nächste Session
des Bundesrats. «
Gleichberechtigung der Konfessionen. Der auf Antrag des
Abgeordneten Wiggers-Berlin beschlossene Gesetzentwurf wegen Aufhebung der
aus dem religiösen Bekenntnis entspringenden Beschränkungen der bürgerlichen
Rechte war dem Bundesratsausschuß für das Justizwesen überwiesen worden.
Derselbe bejahte die Frage, ob der Bund zur Regelung der Frage kompetent
sei, mit Entschiedenheit.) da es sich hier um staatsbürgerliche Rechte handle;
was die Opportunität betrifft, so wurde sie zwar nicht unbedingt zugegeben, viel-
mehr hinsichtlich der Einführung neuer Förmlichkeiten für die Eidesleistung
*) Nach Inhalt dieses Berichts waren ganz oder doch in allen wesentlichen Beziehungen
die bezeichneten Beschränkungen in folgenden Bundesstaaten aufgehoben: Braunschweig,
Coburg-Gotha, Hamburg, Hessen, Schaumburg-Lippe, Lübeck, Oldenburg, Preußen, Reuß.
jüngerer Linie, Königreich und Großherzogtum Sachsen, Waldeck. In den übrigen Bundes-
staaten bestanden noch Beschränkungen, namentlich in Mecklenburg. Ferner waren in Anhalt
die Juden von der Mitgliedschaft des Landtages ausgeschlossen, nur Christen konnten Richter
sein, Freigemeindler entbehrten der staatsbürgerlichen Rechte, konnten kein Staats= oder
Kommunalamt bekleiden. In Bremen konnten nur Christen Mitglieder des Senats, rechts-
gelehrte Mitglieder der Gerichte oder erster Staatsanwalt sein. In Lauenburg wurden
nur Evangelisch-lutherische zu öffentlichen Aemtern zugelassen, die Juden hatten mit Aus-
nahme des Wahlrechts für den Reichstag gar keine politischen Rechte. In Lippe-Detmold
übten nur Christen das aktive und passive ständische Wahlrecht aus, Juden waren von