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auch dann noch nicht beseitigt sein. Es wird immer die Gefahr bestehen bleiben,
daß die angestrebte Gemeinsamkeit des Rechtes verkümmert werde durch die Praxis,
durch die Judikatur. Diese Gefahr nimmt selbst von Tag zu Tag bedenklichere
Dimensionen an. Juristische Abhandlungen zu Hunderten, Kommentare, Lehrbücher
haben über die leitenden Grundsätze, wie über die einzelnen Bestimmungen der
genannten einheitlichen Gesetzbücher die verschiedensten Ansichten entwickelt und
damit einer Fülle von Streitfragen in Theorie und Praxis die Entstehung
gegeben. Diese Streitfragen fanden denn auch in den obersten Gerichtshöfen
der einzelnen Staaten die verschiedenartigsten Lösungen, welche oft Haupt-
prinzipien oder Gegenstände von der höchsten praktischen Bedeutung trafen und
es ist jetzt schon beinahe so weit gekommen, daß die Einheit des deutschen
Wechsel= und Handelsrechts fast nur noch dem Scheine nach besteht. Diesem
Uebel beugt der Entwurf wegen Einführung der Wechselordnung, der Nürn-
berger Novelle und des Handelsgesetzbuches als Bundesgesetze keineswegs vor.
Er verschärft im Gegenteil dasselbe, denn er wird ohne Zweifel neue, das ge-
meinsame Recht betreffende Streitfragen erzeugen, und diese Fragen werden in
den verschiedenen Staaten wiederum verschieden gelöst werden. Diese Lösung
durch ein Gesetz ist auch nicht möglich, wenn anders in einem solchen Gesetze
nicht der gefährliche Weg der Caguistik betreten werden soll. Der einzige Aus-
weg bleibt die Errichtung eines obersten Gerichtshofes für Handelssachen. Hierin
ist die Frage der Opportunität beantwortet. Die Beseitigung des Uebels ist
dringend geboten und man darf nicht warten, bis die Zivilprozeßordnung in
Kraft getreten ist.
Von der Minorität des Ausschusses (Lübeck) wurde hervorgehoben, daß es
gewagt sei, den neuen Gerichtshof in die Lage zu bringen, die verschiedensten
Prozeßrechte handhaben und über die richtige Anwendung der mannigfachsten
Prozeßgesetze entscheiden zu müssen. Man könne mit Errichtung dieses Gerichts-
hofes sehr gut warten und vermeide dann, daß derselbe, kaum eingesetzt, mit
Einführung der neuen Zivilprozeßordnung, einem obersten Gerichtshof für alle
bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten Platz machen oder doch mindestens reorganisirt
werden müsse. Ein solcher oberster Gerichtshof mit beschränkter Kompetenz
drohe die Justizorganisationen in den kleinen Staaten zu schädigen, ja zu zer-
rütten, abgesehen davon, daß leicht Rivalitäten zwischen ihm und den obersten
Landesgerichtshöfen sich entwickeln können.
Bei der Beratung der Kompetenzfrage hatte man Nr. 2 und 13 im
Artikel 4 der Bundesverfassung in Betracht zu ziehen; der Bundesgesetzgebung
unterlag darnach die Zoll= und Handelsgesetzgebung; das Obligationen-, Straf-,
Handels= und Wechselrecht und das gerichtliche Verfahren. Fiel nun die Ge-
richtsverfassung in den Bereich der Bundesgesetzgebung, so konnte auch die Er-
richtung eines obersten Gerichtshofes von diesem Bereiche nicht ausgeschlossen
werden, wenn auch ein solche Institution in der Verfassung nicht ausdrücklich