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sie regeln nur einzelne Fragen des Eisenbahnwesens von vornherein, ohne die
Regelung weiterer Fragen auszuschließen. Was insbesondere den Art. 45 an—
belangt, auf welchen die Gegner sich vornehmlich berufen, so entspricht es weiter
nicht der thatsächlichen Lage, wenn behauptet wird, dem Reiche stehe danach nur
die Kontrolle über das Tarifwesen zu. Der Artikel verpflichtet vielmehr ferner
ganz ausdrücklich das Reich, „dahin zu wirken, daß die möglichste Gleichmäßig-
keit und Herabsetzung der Tarife erzielt werdel. Die Wege zur Erreichung
dieses Zieles sind nicht vorgeschrieben, und selbstredend muß es der Entscheidung
des Reiches selbst überlassen werden, welche Wege dasselbe wählen will. Finden
die Faktoren der Reichsgesetzgebung gegenwärtig nach mancherlei anderen, mehr
oder minderen fruchtlosen Bemühungen, daß die öffentlichen Interessen die Be-
schreitung des Weges der Gesetzgebung erheischen, so hat es dabei lediglich sein
Bewenden. Irren wir nicht, so ist übrigens die Kompetenzfrage bereits bei der
Tarifreform angeregt. Bekanntlich hat sich der Bundesrat dadurch nicht ab-
halten lassen, über das Tarifsystem Vorschriften zu erlassen."“
In der Sitzung vom 17. Juni, zu welcher die Verkehrsminister der vor-
zugsweise interessirten Staaten erschienen waren, rief der Antrag des Ausschusses
eine mehr als dreistündige Debatte hervor, deren Angelpunkt, wie erwartet, die
Verfassungsfrage bildete. Württemberg, Sachsen und Bayern sahen in dem
Gesetze die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung, während Preußen und die
kleineren Bundesstaaten dieser Anschauung widersprachen. Der preußische Stand-
punkt wurde mit besonderer Wärme von dem Handelsminister Maybach und
dem Staatsminister Hofmann vertreten. Schließlich wurde das Gesetz mit
Stimmenmehrheit angenommen, und einigte man sich dahin, die Frage, ob eine
Verfassungsänderung durch die §§ 2 und 4 des Entwurfs vorliege und also
Zweidrittelmajorität Platz zu greifen habe, dem Verfassungsausschuß zu weiterer
Prüfung zu überweisen und davon die Entscheidung abhängig zu machen.
Ueber den Gang der Beratung wurde noch das Folgende bekannt. § 2
des Entwurfs bestimmt, daß die für die Tarifbildung maßgebende Entfernung
— die birtuelle Meile — auf den Antrag der Landesregierung durch den
Bundesrat festgesetzt werde. § 4 bestimmt, daß die Tarifvorschriften nebst
Güterklassifikation und Normaleinheitssätzen durch den Bundesrat festgesetzt werden.
Zu beiden Paragraphen beantragte Preußen die Feststellung durch Gesetz, im
Einklang mit von dem Reichskanzler bei früheren Gelegenheiten wiederholt ent-
wickelten Ansichten. Sachsen beantragte zu § 4, daß die Erhöhung und Herab-
setzung der Normaleinheitssätze den Landesregierungen zustehen solle. Beide Ab-
änderungsanträge wurden abgelehnt und demnächst die einzelnen Paragraphen
des Entwurfs gegen die Stimmen von Bayern (6), Sachsen (4), Württemberg
(4), Braunschweig (2), Sachsen-Altenburg (1) und der Hansestädte (3), also im
ganzen mit 38 gegen 20 Stimmen angenommen. Nach dieser Annahme ergriff
der württembergische Minister v. Mittnacht das Wort und entwickelte in aus-