Full text: Fürst Bismarck und der Bundesrat. Vierter Band. Der Bundesrat des Deutschen Reichs (1878-1881). (4)

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der Fürst saß am Arbeitstische, und als er den Großherzog bemerkte, sagte er: 
„Königliche Hoheit, ich glaubte schon für heute auf die Ehre verzichten zu müssen.“ 
War der Fürst in Varzin, so folgte ihm der Chef der Reichskanzlei dorthin. 
Vor vier Uhr kam der viel in Anspruch genommene Beamte selten einmal zu Bett. 
Bei all der Arbeit hatte er nicht einmal einen Kanzlisten. Anfangs war ein 
Expedient in Varzin, der auch den Vorzug hatte, an der gemeinschaftlichen Tafel 
zu speisen. Als dessen Zeit um war und er einem anderen Platz machen sollte, 
machte er dem Fürsten den naiven Vorschlag, die Photographien miteinander 
zu tauschen zur Erinnerung an die „gemeinsame Thätigkeit“. Seitdem ist 
keine Schreibhülfe mehr für den Chef der Reichskanzlei nach Varzin gekommen. 
Wie rasch Bismarck im Konzipiren war, dafür folgende Beispiele: Friedberg 
war in Varzin zum Besuch und nahm am Frühstück teil, während Tiedemann 
über die Verhandlungen wegen Erneuerung des deutsch-österreichisch-ungarischen 
Handelsvertrags referirte. Es waren sieben oder acht Punkte durchzugehen. 
Der Fürst ließ sich in seiner Mahlzeit nicht stören und dekretirte dann ohne 
Besinnen: „ad. 1. Ich bin bereit. ad. 2. Fällt mir gar nicht ein; die Ungarn 
müssen nachgeben. ad. 3. Muß späterer Vereinbarung vorbehalten bleiben“ ꝛc. ꝛc. 
Alles kam wie aus der Pistole. Friedberg äußerte nachher: „Was ist das für 
ein Mann! Wir Minister haben darüber in Berlin sechs Stunden gesessen und 
debattirt, und hier wird die Sache in sechs Minuten erledigt.“ 
Als nach Abschluß des Friedens von San Stefano ein russisch-englischer 
Krieg drohte, entschloß sich der russische Botschafter am englischen Hofe Graf 
Peter Schuwaloff nach Petersburg zum Zaren zu reisen und beschwor ihn, 
den drohenden Verwicklungen durch einen Kongreß in Berlin vorzubeugen, den 
Bismarck einberufen wollte. Der Zar willigte ein; Schuwaloff reiste nach 
Friedrichsruh und hatte eine kurze Unterredung mit Bismarck. Der Fürst trat 
dann ins Vorzimmer hinaus, wo Graf Herbert und Tiedemann warteten, und 
diktirte ihnen, ohne zu stocken, nicht nur die Einladungen zum Kongreß für die 
Mächte, sondern formulirte auch sofort die Punkte klar und präzis, die zur 
Verhandlung kommen sollten. Alle Großmächte acceptirten das Programm — 
bis auf England, das ein Wort nur geändert haben wollte. Der Fürst erklärte 
sich dazu bereit. 
Mit Bismarcks gewaltiger Geisteskraft ging Hand in Hand sein ungeheures 
Selbstvertrauen und sein Selbstbewußtsein. Er glaubte alles zu können und 
wollte alles thun. Daher unterschätzte er oft Freund und Feind, opferte auch 
wohl ersteren. Die Leidenschaftlichkeit seiner Natur wurde aber durch ein tiefes 
Gefühl gemildert. Er hegte eine schwärmerische Neigung für die Natur und kannte 
jeden Baum in seinem Walde. Als der erste Reichshund „Sultan“ starb, saß 
der Fürst auf dem Teppich und hielt das Tier in seinem Schoß. 
In welcher Weise v. Tiedemann bei der Berufung Hobrechts zum Finanz- 
minister mitgewirkt hat, ist bereits aus der Darstellung in Bd. III. S. 374 bekannt.
	        
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