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Reichskanzler so hohen Wert auch auf diesen Teil der Vorlage lege. Letzterer
erging sich nun über die mangelhafte Leitung der Bundesratssitzungen und führte
auch die unberechtigte Sendung jenes unglücklichen Ober-Postbeamten in die
Bundesratssitzung auf einen „Mangel an Logik“ zurück. Die Möglichkeit der
Wiederholung solcher Vorkommnisse solle nun durch die in Vorschlag gebrachte
Revision der Geschäftsordnung des Bundesrats für die Zukunft abgeschnitten
werden.
Daß die revidirte Geschäftsordnung vom Bundesrat angenommen wurde,
ist bekannt. Infolge davon wurde die Unterscheidung zwischen den Hauptbevoll-
mächtigten zum Bundesrat und deren Stellvertretern eine viel schärfere als-
bisher insofern, als zu gewissen Zeiten und für gewisse Hauptvorlagen nur die
ersteren in Berlin versammelt werden sollten, und als der Gebrauch, der zeither
vom Rechte der Substituirung gemacht wurde, wesentlich beschränkt ward. Dies
hatte für mich zweierlei zur Folge.
Einerseits mußte ich mir sagen, daß mein zeitheriger Stellvertreter im
Bundesrat ganz nach Berlin werde übersiedeln müssen, weil wir uns nicht
mehr so wie zeither mit Substitution (des Königlich sächsischen Gesandten) helfen
konnten, und da die Unterhaltung eines eigenen stellvertretenden Bevollmächtigten
in Berlin auf unsere alleinige Rechnung zu kostspielig war, suchte ich vier andere-
thüringische Regierungen (Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha, Schwarz-
burg-Sondershausen und Reuß jüngerer Linie) dazu zu gewinnen, daß sie
unseren stellvertretenden Bevollmächtigten, den überaus geschäftsgewandten
Staatsrat, jetzigen Wirklichen Geheimen Rat Dr. v. Heerwart auch zu dem ihrigen
ernannten und einen Teil der Unterhaltungskosten mit übernahmen, während
wir die betreffende Persönlichkeit allein aus unseren Beamteten wählten. Zu
meiner Freude gelang diese Operation, obwohl sie von den Mittelstaaten mit
scheelen Augen angesehen wurde, denn sie konzentrirte in den Händen eines
kleinstaatlichen Bevollmächtigten fünf Stimmen, also eine Stimme mehr, als
der Königlich sächsische und der Königlich württembergische Bevollmächtigte zu
vertreten hatten.
Andererseits wurde durch die neue Geschäftsordnung die Dauer meiner
eigenen Anwesenheit in Berlin zur Teilnahme an den Sitzungen des Bundesrats
und seiner Ausschüsse nun alljährlich auf ein geringeres Maß (zwei bis drei
Wochen) beschränkt, da die Hauptbevollmächtigten nur zu gewissen Vorlagen,
auf welche der Reichskanzler besonderes Gewicht legte, zusammenberufen werden
sollten. Zum ersten Male geschah dies im Februar 1881. Die Hauptvorlage
bildete der Entwurf wegen Versicherung der Arbeiter in Fabriken und ähnlichen
Anlagen gegen Beschädigung bei der Arbeit in einer zu diesem Zwecke zu
errichtenden Reichsanstalt, eine Vorlage, welche die Geister in demselben Grade
erregte, in welchem mit ihr eine Bahn zuerst betreten wurde, welche zum Staats-
sozialismus zu führen geeignet war.