Full text: Fürst Bismarck und der Bundesrat. Vierter Band. Der Bundesrat des Deutschen Reichs (1878-1881). (4)

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Wenn es hiernach keinem Zweifel unterliegen kann, daß die Festsetzung der 
Tarifsätze nur der Staatsgewalt zugewiesen werden darf, welche allein im stande 
ist, die Interessen des Allgemeinwohls auf diesem Gebiet mit erforderlichem 
Nachdruck zu wahren, so ist auch die Richtung, nach welcher hin eine Regelung 
des Tarifwesens in Deutschland gegenwärtig vorzunehmen sein wird, durch die 
heutige Lage der deutschen Eisenbahnverhältnisse vorgezeichnet. 
Ob bei der Bemessung des Frachtpreises der Nutzeffekt für den Empfänger 
oder Absender, die Stufe der Produktion — ob Rohprodukt, Halb= oder Ganz- 
fabrikat —, die größere oder geringere Leichtigkeit der Versendung, ferner eine 
vorwiegende Rücksichtnahme auf Spezialbedürfnisse gewisser Zweige der In- 
dustrie, des Handels oder der Landwirtschaft u. s. w. in Rechnung zu ziehen sind, 
oder ob in erster Linie auf den Handelswert des Gutes, auf den Raum oder 
das Gewicht beziehungsweise auf das Verhältnis beider Rücksicht zu nehmen 
sei: dies sind Fragen, über welche in eine mehr oder weniger theoretische Be- 
handlung einzutreten jetzt nicht am Platze ist. 
Die Thatsachen liegen jedenfalls vor, daß durch besondere, hierauf berechnete 
Tarife einzelnen Geschäftszweigen direkt ein höherer Aufschwung gegeben, eine 
lokale Produktion unmittelbar gefördert, selbst eine neue Industrie bewußt ins 
Leben gerufen worden ist, gleichwie dadurch unbestreitbar die Preise bestimmter 
Waren in bestimmten Lokalitäten herabgedrückt werden können. Es kann den 
einzelnen Bahnverwaltungen das Recht aber nicht zustehen, gegenüber den 
hundertfach verwickelten Faktoren und Bedingungen der Produktion und Kon- 
sumtion einer Volksgemeinschaft des 19. Jahrhunderts eine nach allen Seiten 
regelnde und beherrschende Thätigkeit gewissermaßen gleich einer eingreifenden 
Vorsehung sich vindiziren zu wollen. Es darf nicht von ihnen abhängen, an 
irgend einem Punkte des Vaterlandes durch künstliche Bildungen, wie die Aus- 
nahmetarife, Industrien großzuziehen und gleichzeitig an anderen Orten die von 
der Natur gegebenen Erwerbszweige zu bedrücken oder selbst zu unterdrücken. 
Auch die aufgeklärtesten Mitglieder der einzelnen Eisenbahndirektionen, so große 
Verdienste sie sich um das vaterländische Transportwesen erworben haben, 
können unmöglich mit Sicherheit übersehen, welche Wirkungen auf den gesamt- 
wirtschaftlichen Zustand ihre für die Nähe vielleicht wohlberechneten Maßregeln 
zur Folge haben werden. Die durch den Transport bewirkte Steigerung des 
Nutzwertes wird nur dann dem Ganzen zu gut kommen, wenn sie, mit Ver- 
meidung künstlicher Verschiebungen des natürlichen Gleichgewichts, sich auf fester 
und allen erkennbarer Grundlage bewegt. Uebrigens haben bereits mehrere 
Eisenbahnverwaltungen, darunter sehr bedeutende, sich von der Vorstellung 
losgesagt, als seien sie berufen, durch gebietende Macht in die gegebenen 
Bedingungen der Produktion und Konsumtion einzugreifen, die natürlichen 
Verhältnisse umzugestalten und Handel und Industrie zu beherrschen, statt diesen 
zu dienen.
	        
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