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Einschränkung der Tariffreiheit der einzelnen Bahnen und durch reichsgesetzliche
Festsetzung der Tarifsätze nach gleichmäßigen durch das Allgemeinwohl bestimmten
Grundsätzen ausführbar ist. Die Entscheidung darüber, ob eine Abweichung
von der normalen Berechnung im einzelnen Falle mit Rücksicht auf die wirt-
schaftlichen Interessen Deutschlands oder einzelner Gebiete zweckmäßig oder
zulässig ist, darf nicht länger von der zufälligen Gestaltung der Sonder-
interessen der einzelnen Eisenbahnverwaltungen abhängig gemacht werden,
sondern muß der unparteiischen Beurteilung durch die staatliche Aufsichtsbehörde
unterliegen.
Mit historischer Notwendigkeit vollzieht sich auch im Eisenbahnwesen der-
jenige Uebergang, wie ihn die Kulturgeschichte der Völker bei anderen wirt-
schaftlichen Entwicklungen erlebt hat. Neue wirtschaftliche Erscheinungen sind
zunächst ohne Beeinflussung durch die staatliche Einwirkung entwickelt und fort-
gebildet; allmälich ist aber das Interesse an denselben so groß und allgemein
geworden, daß die fernere Regelung nicht mehr dem Egoismus und der
Willkür der Einzelinteressen überlassen werden konnte, vielmehr nach den
Interessen der Allgemeinheit erfolgen mußte. Ein lehrreiches Beispiel liegt in
Deutschland in der Entwicklung des Tarifs der Paketpost vor, welcher vor dem
Bau der Eisenbahnen, bei dem Mangel anderer regelmäßiger und geordneter
Verkehrsmittel, die Vermittlung des größten Teils des Warenschnellverkehrs zufiel.
Sehr ähnlich diesen geschichtlichen Vorgängen bei der Entwicklung des
Päckereitarifs ist auch die heutige Entwicklung des Eisenbahntarifwesens auf dem
Punkte angelangt, daß sie nicht länger in der Verwirrung belassen werden kann,
in welche sie die bunte Gestaltung der einzelnen Bahngebiete und Verkehrs-
interessen gebracht hat.
Einer so durchgreifenden Umgestaltung, wie sie die Entwicklung des Post-
tarifs durch die Einführung der direkten Entfernung von Ort zu Ort — der
Luftlinie — bei einheitlichen Grundtaxen, schon im ersten Viertel dieses Jahr-
hunderts aufzuweisen hatte, erscheint der heutige Entwicklungszustand des Eisen-
bahnwesens zurzeit noch nicht fähig.
Die zunächst notwendige Reform würde sich den bestehenden Verhältnifsen
anzuschließen und auf diejenigen Festsetzungen zu beschränken haben, welche im
Interesse des Gemeinwohls gefordert werden müssen. Bis auf weiteres würde
daher die zurzeit auf den deutschen Bahnen fast durchgängig eingeführte Güter-
klassifikation, mit den für die Erleichterung des Kleinverkehrs gebotenen Modi-
fikationen, dem Einheitstarif zu Grunde zu legen sein. Da es aber unmöglich
ist, Tarife für jede einzelne Industrie und für jedes einzelne Industrie= und
Produktionsgebiet zu bilden, ohne in dem jetzigen Chaos des Tarifwesens zu
verbleiben, und da die Festsetzung der Tarife für eine Industrie und ein
Industriegebiet stets alle benachbarten Gebiete und konkurrirenden Industrien mit
berührt: so bleibt nichts übrig, als die Ausnahmen von dem Klassifikations-