Gasteiner Vertrag. Haltung der Fortschrittspartei. 93
Empfindungsleben des Königs Wilhelm. Nach Bismarcks
Wahrnehmung fand nach der Besitznahme von Schleswig und
Lauenburg ein psychologischer Wandel, ein Geschmackfinden an
Eroberungen statt, wenn auch mit vorwiegender Befriedigung
darüber, daß dieser Zuwachs, der Hafen von Kiel, die mili-
tairische Stellung in Schleswig und das Recht, einen Canal
durch Holstein zu bauen, in Friede und Freundschaft mit
Oesterreich erworben worden war.
Während der König den großen Erfolg seines auswär-
tigen Ministers durch seine Erhebung in den erblichen Grafen-
stand ehrte, schmähten diesen die preußischen Liberalen; ihr Haß
gegen Bismarck war stärker als das Interesse für die deutsche
Flotte, und es schien fast, als ob die „Fortschrittspartei die
neu erworbenen Rechte Preußens auf Kiel und die damit be-
gründete Aussicht auf unsere maritime Zukunft lieber in den
Händen des Auctionators Hannibal Fischer als in denen des
Ministeriums Bismarck gesehen hätte“. Auf ihren Antrag
lehnte das Haus der Abgeordneten die Vorlage, betr. eine
Anleihe zur Verstärkung der preußischen Marine, ab. Die
Betrachtung, die Fürst Bismarck an die damalige Haltung
seiner parlamentarischen Gegner knüpft, berührt einen der
wundesten Punkte unseres deutschen Parteilebens und einen
der schwersten Fehler unseres Volkscharakters und verdient
darum ganz besonders beherzigt zu werden: „Es liegt im
Rückblick auf diese Situation ein bedauerlicher Beweis, bis zu
welchem Maße von Unehrlichkeit und Vaterlandslosigkeit die
politischen Parteien bei uns auf dem Wege des Parteihasses
gelangen. Es mag Aehnliches anderswo vorgekommen sein,
doch weiß ich kein Land, wo das allgemeine Nationalgefühl
und die Liebe zum Gesammtvaterlande den Ausschreitungen
der Parteileidenschaft so geringe Hindernisse bereitet wie beie
uns. Die für apokryph gehaltene Aeußerung, welche Plutarch
dem Cäsar in den Mund legt, lieber in einem elenden Ge-
birgsdorfe der Erste als in Rom der Zweite sein zu wollen,
hat mir immer den Eindruck eines echt deutschen Gedankens
gemacht. Nur zu viele unter uns denken im ößffentlichen
Leben so und suchen das Dörschen, und wenn sie es geo-