Sinn der Indemnitätsforderung. Die Annexionen. 109
Liberalen von dem siegreichen Preußen erwarteten. Auf der
langen Eisenbahnfahrt von Prag nach Berlin (4. August) ent-
wickelte Bismarck dem Könige seine Gedanken, ohne dafür so
leicht Verständniß zu finden: dem Könige erschien die Bitte
um Indemnität wie eine Demüthigung vor dem Abgeordneten-
haus, wie ein Schuldbekenntniß, zu dem nach seiner Auffassung
nicht der geringste Anlaß vorlag. Schließlich gab er doch nach.
Ich weiß nicht, ob Bismarck damals die Cabinetsfrage gestellt hat;
vielleicht genügte der Hinweis auf die Einigkeit sämmtlicher
Minister in der Ueberzeugung von der politischen Nothwendig-
keit einer Schließung des Conflicts — kurz: die Thronrede
vom 5. August enthielt die Bitte um Indemnität, und Bis-
marck sorgte dann dafür, daß die Indemnitätsforderung als
das freiwillige Geschenk eines großmüthigen Siegers erschien,
das den Gegnern der Regierung Gelegenheit geben wollte, sich
auf dem gemeinsamen Boden des Vaterlandes mit ihr zu ge-
deihlicher Arbeit zusammenzuschließen.
Inwieweit Bismarck selbst für Annexionen deutscher Länder
gewesen ist, lassen die „Gedanken und Erinnerungen" mit ziem-
licher Sicherheit erkennen. Bismarck erklärte sich gegen die
Verstümmelung einzelner deutscher Staaten, die dem Könige
sympathischer gewesen wäre als Annexionen ganzer Staats-
gebiete; gegen Annexionen in größerem Umfange hatte er sicher
prinzipiell nichts einzuwenden, da er in dieser Zeit nichts
anderes sein durfte als preußischer Staatsmann, als solcher
aber eine so günstige Gelegenheit nicht vorübergehen lassen
durfte, ohne die Unbill der Vergangenheit wieder gut zu machen.
Der Theoretiker in ihm ließ die Einziehung aller durch den
Krieg überwundenen Staaten als das gute Recht Preußens
betrachten, aber der staatsmännische Verstand hieß ihn Be-
schränkung auf das unbedingt Nothwendige üben. Preußen
hatte mit der Mißgunst Europas zu rechnen, und mußte des-
halb seine Annexionsgelüste auf das Maß des Unentbehrlichen
beschränken. Unentbehrlich aber war für Preußen die Her-
stellung einer Verbindung zwischen dem östlichen und westlichen
Theile der Monarchie; es war ein Unding, daß Westphalen
und Rheinprovinz, zwei so werthvolle Perlen der preußischen